München – Manfred Steffny garnierte seinen Auftritt am vergangenen Freitag mit einem nostalgischen Gag. Zur Pressekonferenz für den München Marathon erschien er im offiziellen baumwollenen Olympiaanzug von 1972. Steffny, heute 82 und noch immer Herausgeber und Chefredakteur des Laufmagazins Spiridon, startete vor 51 Jahren über die 42,195 Kilometer, belegte den 31. Platz. Er hatte einen seiner Schuhe von damals dabei: einen Brütting aus Känguruleder, „zum Leidwesen des Herstellers von mir selbst perforiert“. Nut 180 Gramm wog sein Wettkampfschuh, nicht viel mehr als das aktuelle High-Tech-Modell von Adidas (133 Gramm). „Aber mein Schuh war hart, die Füße taten weh. Das ist bei den modernen Schuhen nicht der Fall.“
Steffny richtete den Blick auf den Sonntag: „Da ist auch Chicago. Wollen wir mal sehen, wie Nike kontert.“ Ende September hatte Adidas mit dem Frauen-Weltrekord der Äthiopierin Tigist Assefa (2:11:53 Stunden) in Berlin die Schlagzeilenhoheit eingenommen. In den USA folgte nun der Gegenschlag von Nike: Kelvin Kiptum (23), Kenianer, rückte den Weltrekord in 2:00:35 Richtung Zwei-Stunden-Schallmauer, die Niederländerin Sifan Hassan (30), auch sie mit dem Markenzeichen Swoosh unterwegs, lief in 2:13:44 Stunden die zweitbeste Zeit, seit Frauen sich auf der längsten Strecke beweisen dürfen. Es ist eine neue Entwicklung: Man fragt bei Läufern und Athletinnen nicht nur nach Herkunftsland oder -kontinent und dem letzten Trainingslager, sondern auch nach dem Material. Marke? Das Spitzenmodell? Gewicht?
Sebastian Hendel ist ein gutes Beispiel für das, was im Marathon gerade passiert. Der Braunschweiger steigerte sich bei seinem zweiten Münchner Marathon-Start auf 2:10:14 Stunden. Der 27-Jährige kann seinen Lebensunterhalt als Lauf-Profi bestreiten, doch international spielt er keine Rolle. Olympia 2024 hat er verpasst, die bis 31. Januar zu erbringende Norm von 2:08:10 schafft(e) er nicht. „Für die Spiele in Rio“, erinnert er daran, wie es vor ein paar Jahren war, „hätten 2:16 gereicht. Heute wäre das ein Longrun im Training.“ Der Deutsche Rekord von Amanal Petros liegt seit gut zwei Wochen unter 2:05 Stunden – eine Zeit, die vor wenigen Jahren noch einem kleinen Weltklasse-Zirkel vorbehalten war.
Wie kommt es zur Leistungsexplosion? Die Schuhe, findet Hendel, haben ihre Anteil. „Sicher hätte auch die Generation von Manfred Steffny oder die Besten in den 80er-Jahren mit ihnen 2:07 oder 2:08 laufen können.“ Dazu kommt: Es gibt immer mehr Läufer, die sich von Beginn ihrer Karriere an auf die 42 Kilometer spezialisieren „und nicht bis 30 warten, wenn es auf der Bahn nicht mehr für vorne reicht“. In München lag drei Plätze vor Hendel, auf Rang zwei, der Kenianer Benson Nzioki (2:09:21) – er ist 20. „Da ist sicher Potenzial vorhanden“, glaubt Hendel, warnt aber: „Für Afrikaner ist es bei Verletzungen oft schwer mit der medizinischen Betreuung.“ Und die neuen Schuhe mit ihren Carbon-Sohlen, so erwarten die Sportwissenschaftler, werden vor allem die Knie langfristig stark strapazieren. Aber das kenianische Reservoir an Talenten ist schier unerschöpflich.
Den Bedarf nach laufenden Fachkräften befördern auch die großen Stadtmarathons. Anders als die von Taktik geprägten Titelrennen (Olympia, WM, EM) geht es in den Citys um die Zeit. Die Läufe werden designt: mit Schrittmachern, sekundengenauen Marschtabellen, ausgeklügelter Streckenwahl: wenig Kurven, lange Geraden, keine Steigungen. Der Herbst hat wieder gezeigt; Berlin ist schnell, Chicago nicht weniger. Die Rekordaussicht ist ein Pull-Faktor in der Spitze.
Könnte München auch eine Strecke sein, auf der eine 2:02, 2:03 gelaufen wird? Schwer zu sagen: Bis vor einem Jahr bediente die Münchner Veranstaltung den Breitensport, es gab keine Antrittsgelder, keine Prämien – die langsamen Zeiten von damals sind eine Last. „Viele schauen noch argwöhnisch auf München“, so Sebastian Hendel. Dass es mindestens ein 2:07-Stunden-Kurs ist, wurde im Vorjahr aber bewiesen.
Diesmal war die Topzeit zwei Minuten langsamer. Ursachen: eine Strecken-Fehlleitung mit etwa 200 Metern plus, die für den Oktober ungewöhnliche Wärme (17 bis 20 statt durchgehend 9,5 Grad) und Wind. „Es gab Böen“, so Hendel, „die Kilometer-Splits waren ungleich.“ Das lief auch der Schuh nicht mehr rein. GÜNTER KLEIN