„Die Mannschaft braucht wieder ein Gesicht“

von Redaktion

Turnierdirektor Philipp Lahm über die DFB-Elf, die Heim-EM und die neuesten FIFA-Entscheidungen

München – Für Themen, die Philipp Lahm am Herzen liegen, nimmt er sich viel Zeit. Und man merkt dem Turnierdirektor der EURO 2024 im einstündigen Gespräch in jeder Minute an, dass er für die Sache brennt. Im Rahmen der „Working Visits“ ist der 39-Jährige aktuell in seiner Heimatstadt München unterwegs. Auf das Großereignis, das in acht Monaten mit dem Eröffnungsspiel in München startet, blickt er positiv, sagt aber über das DFB-Team: Es gibt noch viel zu tun!

Herr Lahm, Sie haben alle Austragungsorte besucht. Welche Rolle spielt München?

Wir fiebern alle dem Eröffnungsspiel entgegen – darum ist München schon ein besonderer Austragungsort. Das haben wir am Startschuss der Ticketvergabe gemerkt: Die meisten Anfragen gab es bisher neben dem Finale für das Eröffnungsspiel. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass Deutschland den Auftakt bestreiten wird. Erinnern Sie sich an die WM 2006: Die Welt schaut auf diesen Standort – und das Turnier beginnt dann endlich.

Haben Sie schon einen Zeitplan, welche EM-Spiele Sie besuchen werden? Bei der WM 2006 reiste der damalige Turnierdirektor Franz Beckenbauer mit dem Hubschrauber durch die Republik …

Erst einmal: Der Kaiser wurde damals zu Recht gefeiert für seinen Hubschrauber. Er hat wirklich versucht, jedes Spiel im Stadion zu sehen – und wenn es nur für eine Halbzeit war. Ich glaube aber, es passt nicht mehr in die heutige Zeit, dass man mit dem Hubschrauber durchs Land fliegt – unabhängig davon bin ich kein Fan von Hubschrauber-Flügen. Wenn der „Final Draw“ im Dezember erfolgt ist, werde ich mir Gedanken machen. Klar ist: Ich möchte jede Mannschaft spielen sehen und in jedem Standort einmal vor Ort sein.

Wie hat sich die Stimmung in Fußball-Deutschland seit Ihrem Amtsantritt verändert?

Was wir als Organisatoren erlebt haben ist, dass wir sehr weit oben gestartet sind. Jeder hat noch im Bewusstsein, was die WM 2006 mit unserem Land gemacht hat und wie wunderbar sie war. Mit der Bewerbung im Jahr 2018 war die Vorfreude sofort vorhanden und stets gegeben.

Aber?

Damals war die EM noch weit entfernt – und in der Zwischenzeit ist viel passiert. Deutschland ist zweimal bei einer WM in der Vorrunde ausgeschieden, bei der pandemiebedingt verschobenen EM war im Achtelfinale Schluss. Vor allem das WM-Aus in Katar, denke ich, hat Spuren hinterlassen. Dann war es auch vielen Fans bewusster: Das nächste große Turnier ist im eigenen Land – und langsam läuft uns die Zeit davon. Die Vorfreude war zwar weiterhin vorhanden, aber viele haben sich gedacht: Hoffentlich sehen wir dann eine bessere DFB-Elf.

Ab wann haben Sie 2006 gemerkt, dass es ein Sommermärchen wird?

(überlegt) Das vergessen zwar manche und ich war verletzungsbedingt auch nicht dabei, aber der Confed Cup 2005 war für mich schon ein erstes Indiz. Damals wurde eine Art Vor-Euphorie entfacht. Natürlich hatten wir auch während der WM noch Schwankungen. Das Eröffnungsspiel lief ja auch nicht so gut. Klar, wir hatten 4:2 gewonnen – aber der Gegner hieß Costa Rica. Ein ordentlicher Start, mehr nicht. Und dann kam Dortmund.

Der Sommermärchen-Auslöser?

Nach dem 1:0 gegen Polen schwappte uns die pure Begeisterung von der Tribüne entgegen. Da hat man ja gedacht, das Stadion bricht zusammen. Und danach haben wir so richtig realisiert, was in unserem Land passiert. Ein gutes Beispiel, wie schnell so etwas gehen kann, war auch das letzte Spiel der Nationalmannschaft gegen Frankreich vor wenigen Wochen.

Schon wieder Dortmund.

Das hat doch gezeigt, dass die Begeisterung sehr schnell wieder überspringen kann – auf die Mannschaft, aber auch von der Mannschaft auf die Fans. Wir hatten im März 2006 1:4 gegen Italien in Florenz verloren – und trotzdem ging es im Turnier dann schnell. Die Leute wollen die Nationalmannschaft kämpfen und siegen sehen und sie unterstützen! Und wenn die Fans sehen, dass eine Mannschaft auf dem Feld steht, mit der sie sich identifizieren können, die leidenschaftlich mit einem Mix aus Jüngeren und Älteren Fußball spielt und in der sich jeder irgendwo wiederfindet, kann sehr schnell eine Euphorie entfacht werden.

Spiegelt sich die Euphorie auch in den Ticketanfragen wider?

Wir haben in den ersten 24 Stunden mehr als sieben Millionen Ticket-Bewerbungen erhalten. Die meisten aus Deutschland, insgesamt aber aus 169 Ländern. Das ist beeindruckend! Und die Bewerbungsphase geht bis zum 26. Oktober. Daher noch mal der Hinweis: Jeder Bewerber hat die gleiche Chance.

Ist es Motivation oder Bürde, das Sommermärchen 2006 übertreffen zu wollen – oder gar müssen?

Ich muss immer wieder darauf hinwirken, dass es ein großes Fest wird. Und dann ist trotzdem jede Bürgerin und jeder Bürger gefragt: Die Leute müssen es ja auch aufnehmen und sagen: Alles klar, ich bin dabei! Wir zeigen uns so, wie wir sind, alle sind herzlich willkommen – und ich will auch mitfeiern!

Gibt es Momente, in denen Sie sich schwertun, die Euphorie anzukurbeln? Wenn Deutschland beispielsweise zu Hause gegen Japan mit 1:4 verliert.

Die Momente gibt es, ja. Ich wünsche mir – wie viele andere – auch den Erfolg. Ich habe einen fußballverrückten Sohn zu Hause – und der hat noch nie eine erfolgreiche Nationalmannschaft gesehen. Siege helfen. Aber vor allem ist die Identifikation mit der Mannschaft wichtig. Und die ist uns etwas verloren gegangen.

Warum?

Weil man nicht mehr weiß: Wer ist die Mannschaft? Wie ist die Hierarchie? Wer trägt die Verantwortung? Und dann hilft es noch weniger, wenn man nicht gewinnt. Zuletzt gab es vier Siege aus 17 Spielen. Das ist man bei uns nicht gewohnt.

Sie haben klar formuliert, was Sie von der Nationalmannschaft erwarten. Danach hieß es, Sie würden der Mannschaft einen großen Rucksack aufschnallen. Wie kontern Sie?

Ich sehe da keinen Rucksack. Es sind Nationalspieler – und sie besitzen ohne Zweifel die nötige fußballerische Qualität! Ich finde, die Spieler müssen sich mit der Aufgabe identifizieren. Das ist etwas Besonderes, etwas Schönes! Ich spreche aus eigener Erfahrung: Es gibt doch nichts Besseres, als in „seinem“ Stadion spielen zu dürfen und seine Nation zu repräsentieren. Es muss was getan werden und ich bin immer noch sehr zuversichtlich. Und hierfür müssen wir Julian Nagelsmann als Bundestrainer und der Neu-Aufstellung des DFB auch eine Chance geben.

Mit seiner kommunikativen Art ist Nagelsmann die ideale Besetzung, oder?

Bei Hansi Flick haben auch die meisten gesagt: Es wird super! Es hat aber nicht funktioniert. Darum halte ich mich mit Prognosen zurück. Aber, Sie sehen das richtig: Julian Nagelsmann versprüht Energie. Und ich glaube, das ist in der aktuellen Situation gut. Jetzt muss er die richtigen Weichen stellen, um eine erfolgreiche EM zu spielen.

Die da wären?

Er muss seiner Mannschaft ein Gesicht verpassen, ein Profil. Dafür muss er die Spieler, die dieses Gesicht darstellen sollen, regelmäßig spielen lassen. Denn nur so entsteht eine Hierarchie. Und dann bin ich überzeugt, dass sich der Erfolg wieder einstellt. Ich bin positiv, weil ich mir denke: Das kann man hinbekommen – und zwar auch in kürzester Zeit!

Lässt die Kader-Nominierung für die USA-Reise auf klare Entscheidungen und Strukturen schließen?

Dass Ilkay Gündogan Kapitän bleibt, ist für mich eine klare Entscheidung, die ich auch sehr begrüße. Er hat bewiesen, dass er eine Mannschaft führen kann. Er hat mit Manchester City alle drei Titel gewonnen und war in den vergangenen Jahren stets einer der wichtigsten Spieler für Pep Guardiola, jetzt ist er in Barcelona.

Hat Rudi Völler eine besondere Rolle?

Mit Sicherheit. Er ist Sportdirektor. Er hat die Erfahrung auf allen Ebenen, als Spieler, als Trainer, als Funktionär. Und er ist einer, dem man gerne zuhört, der Menschen verbinden kann. Seine Funktion ist außerdem wichtig, weil Julian Nagelsmann noch nie Nationalspieler oder Bundestrainer war, also noch keine Turniererfahrung hat.

Ist so ein Trip wie aktuell in den USA Fluch oder Segen für das Team?

Er schadet nicht! Das Team ist jetzt eineinhalb Wochen zusammen, kann trainieren, sich finden. Für Julian Nagelsmann sehe ich daher bei diesem Trip das Positive.

Wie hätten Sie den Trip als Spieler bewertet?

Als Spieler sind solch lange Reisen nicht immer schön. Aber ich hoffe, dass die Spieler aktuell trotzdem das Positive sehen können. Dass sie sagen: Okay, vielleicht ist es gut, in dieser Situation weit wegzukommen, zehn Tage zusammenzuarbeiten, uns zu unterhalten, ohne dass wir in Deutschland sind.

Leon Goretzka hat sich vorab kritisch geäußert.

Ob der Fan das gut fand, weiß ich nicht. Aber auch Leon Goretzka will ja im nächsten Sommer eine UEFA EURO 2024 in Deutschland spielen und sich jetzt gemeinsam mit der Nationalmannschaft gut vorbereiten. Vielleicht hat man in meiner Zeit auch mal kritische Töne gehört, wenn wir zum Beispiel nach der Hinrunde mit dem DFB auf Asien-Tour gegangen sind (lacht). Trotzdem bin ich am Ende gerne hingeflogen und habe alles gegeben.

Sehen Sie diesen unbedingten Einsatz bei der heutigen Generation?

Man muss sich wieder mehr mit der Aufgabe identifizieren. Wenn ich nominiert werde und einigermaßen fit bin, gehe ich hin. Ich habe genau ein einziges Mal abgesagt, nämlich als ich Vater geworden bin.

Bis zur WM 2030 wird es einen neuen Block geben. Einen, der dann eine WM in sechs Ländern auf drei Kontinenten spielen wird. Wie beurteilen Sie die Pläne der FIFA, die letzte Woche publik wurden?

Ich sehe das aus verschiedenen Blickwinkeln: Die Idee, eine WM für alle und auf mehreren Kontinenten zu spielen, finde ich gut. Genau wie den Gedanken, Uruguay zum 100-jährigen Jubiläum einzubeziehen. Wenn ich aber dann lese, dass in Uruguay, Paraguay und Argentinien jeweils nur ein Spiel – also drei von 104 Partien des Turniers – stattfinden soll, dann finde ich es schwierig. Wir versuchen aktuell in Deutschland, die grünste EURO aller Zeiten auf die Beine zu stellen, während die FIFA diesen Aspekt vernachlässigt. Außerdem fehlt mir auch der Gedanke des Fußballfests: Wir kommen zusammen, wir sehen uns, wir zeigen, wie wir miteinander leben wollen.

Turniere in einem Land sind bei 104 Partien aber doch kaum zu realisieren.

Auch das ist ein wichtiger Punkt. Unser Ziel ist es, bei der UEFA EURO 2024 Reisedistanzen zu minimieren. Das ist bei einer WM wie dieser dann nicht mehr möglich. Trotzdem wären Länder, die nah beieinander liegen, optimal, um Begegnungen zu schaffen. Und natürlich würde ich mir immer wünschen, dass Großereignisse ausschließlich in demokratischen Ländern stattfinden.

Womit wir bei 2034 wären – und der Bewerbung von Saudi Arabien.

… die erstmal erfolgreich sein muss. Trotzdem sage ich: Für mich geht es beim Fußball um so viel mehr als gute Spieler und gute Ligen. Ich stelle mir vorab Fragen wie: Wie viel Wert hat der Fußball in einem Land? Gibt es eine Fankultur? Deshalb hoffe ich auch nicht, dass es nach den drei Spielen in Südamerika 2030 heißt: Jetzt hattet ihr doch eure WM. Allein die Begeisterung, die wir 2014 in Brasilien erleben durften, ist so viel wert. Man darf diesen Kontinent nicht abspeisen!

Was muss bis 2034 passieren, damit der DFB stark aus seiner Krise hervorgegangen ist?

Die Grundvoraussetzung ist mit der personellen Besetzung der Posten geschehen, die ich als klar und vor allem unabhängig einordne. Jetzt muss Julian Nagelsmann der Mannschaft ein Gesicht geben, während ich mir vom DFB wünsche, zurück zu den Wurzeln zu kommen. Amateurfußball, Nachwuchs, Frauenfußball, Schiedsrichterwesen – da muss wieder mehr investiert werden.

Spielt ihr Sohn eigentlich lieber Funino – oder Fußball auf zwei Tore?

Wir sind beide Fans von Spielen auf zwei Tore (lacht). Aber um die Jugendreform des DFB zu bewerten: Für mich geht es nicht immer nur um Sieg oder Niederlage. Jedes Kind kann zählen, jedes Kind weiß, ob es gewonnen oder verloren hat. Aber was zeichnet das Vereinsleben aus? Es geht um Teilhabe, um Bewegung, um Regeltreue, um das Miteinander. Das macht unseren Fußball so wertvoll!

Interview: Hanna Raif und Manuel Bonke

Artikel 1 von 11