So schlimm war es für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft also gar nicht, „Far Away in America“ gewesen zu sein (um an ihren offiziellen WM-1994-Song mit der bunten Combo Village People zu erinnern). Klar, hätte Hansi Flick noch als Bundestrainer amtiert, wäre die Wahrnehmung eine andere gewesen. Doch für den Start von Julian Nagelsmann erwies sich die „Maßnahme“ als nahezu ideal: Das DFB-Team konnte ohne die bei Heimspielen übliche mediale Ausleuchtung an sich arbeiten, es bekam mit den USA und Mexiko fordernde Gegner, und für das Fernsehpublikum daheim fühlten sich die beiden Länderspiele auch ein wenig anders an als der Alltag. So ein bisschen nach Turnier – nur ohne Niederlagen.
Wieder wird offenbar, dass im Sport Stimmungen sich schnell verändern können. Binnen Wochen ist aus der negativen Erwartung eines sicheren EM-Vorrunden-Aus eine „Europameister – warum nicht?“-Haltung geworden. Schließlich ist man Deutschland, schließlich bestreitet man ein Turnier mit Heimvorteil. Und hat auch in der Vergangenheit schon Titel gewonnen, ohne die talentierteste Mannschaft zu stellen. Etwa 1996, beim letzten EM-Triumph in England. Da ging’s über die Trotzigkeit eines durch beispiellose Verletzungsnot permanent schrumpfenden Kaders – und das Gespür von Monika Vogts, Bundestrainergemahlin, dass dieser adrette Oliver Bierhoff was reißen könne. Die großen Geschichten ergeben sich, sie sind nicht planbar. Auch wenn der Fußball mittlerweile verwissenschaftlicht ist.
Was Julian Nagelsmann richtig macht: Er betont die Stärken, die sein Kader hergibt. Wer Ausnahmetalente wie Wirtz und Musiala hat, muss sie bedingungslos spielen lassen. Er gibt Ilkay Gündogan die Rolle und die Entfaltungsfreiheiten, die er in seinen Vereinen hat(te). Er steht zu Leroy Sané, der mehr Vertrauen spüren muss als andere Spieler. Die Idee ist: Das eine Ende des Kaders soll aufwiegen, was die Defizite am anderen Ende anrichten. Die Defensive hat trotz der Rückkehr von Mats Hummels keine Sicherheit. Das Duo Hummels ’23/Antonio Rüdiger ist weit entfernt von der Weltklasse, die Hummels/Jerome Boateng in den Jahren 2014 bis 16 verkörperten. Es fehlen Top-Außenverteidiger. Aber es fühlt sich nun so an, als gäbe es Wege, den Mangel zu managen. Die Amerika-Reise war keine Verschwendung von Zeit und Energie. Sie war erkenntnisreich.
Guenter.Klein@ovb.net