Streit um den Ski-Start

von Redaktion

Kritik am Sölden-Rennen am Wochenende wächst – Selbst Industrie und Tourismus zweifeln

VON THOMAS JENSEN

München – Auf den Millimeter genau trifft Mikaela Shiffrin auf der Piste die schnellste Spur. Ebenso präzise agiert eine der größten Skifahrerinnen auch verbal. Jüngst fragte sie: „Bis zu welchem Grad sollen wir unsere Umwelt an einen Zeitplan anpassen, den wir haben wollen? Oder sollten wir unsere Zeitpläne an die Umwelt anpassen?“

Die 28-Jährige aus Colorado traf damit den Kern einer Debatte, die die Skiwelt Jahr für Jahr beschäftigt. Oder nervt. Je nach Sichtweise. Ist der Weltcupstart im Oktober in Zeiten des Klimawandels angebracht? Ja, sagen die, die Shiffrin kritisieren. Unter anderem Marc Girardelli. Der fünfmalige Gesamtweltcupsieger Liechtensteins (gleichauf mit Shiffrin) sagte dem Schweizer Blick: „Idole wie Shiffrin und Gut-Behrami sollten endlich aufhören, an dem Ast zu sägen, auf dem sie selber sitzen.“ Die Schweizerin Lara Gut-Behrami hatte sich ähnlich zu Shiffrin geäußert. Und schon im Februar hatten über 500 Wintersportler den Weltverband FIS in einem öffentlichen Brief zu mehr Klimaschutz gedrängt.

Sägen sie alle am Ast, weil sie sich einem gesellschaftspolitischen Thema stellen? Oder die FIS, die alle Glaubwürdigkeit verspielt, was den Umgang mit dem Klimawandel angeht? Die 2021 unter dem damals neuen Präsidenten Johan Eliasch aufgestellte Behauptung, klimapositiv zu sein, belegt die FIS so wenig wie den Sinn zweier statt wie bisher nur einer Reise der Alpinen pro Saison nach Nordamerika. Andere Verbände hetzen ihre Akteure auch um den Globus. Aber sie behaupten auch nicht, mehr CO2 aus der Atmosphäre zu entnehmen, als sie abgeben.

„Greenwashing“, sagt Ursula Bittner dazu, Expertin für Wirtschaft von Greenpeace Österreich. Die Umweltschützer hatten im Sommer Bauarbeiten am Rettenbachferner bei Sölden kritisiert. Die Betreiber konterten, die Arbeiten seien für den Publikumslauf und nicht für den Weltcup. Außerdem benötige eine ebenere Piste bei der Präparation weniger Aufwand, sei nachhaltiger. Greenpeace betreibe „Missbrauch von Fakten“, wurde der Geschäftsführer im „Standard“ zitiert.

Bittner wehrt sich gegenüber unserer Zeitung: „Natürlich findet nach dem Weltcup dort Publikumslauf statt.“ Aber dass es sich um Arbeiten für den Weltcup handle, habe einer Einblendung auf der Webcam entnommen werden können. Dass die Arbeiten illegal seien, habe Greenpeace nie behauptet, so Bittner, auf Antworten vom Land Tirol oder aus Sölden zu der genauen Genehmigung warte man aber noch. Auch eine Gesprächsanfrage unserer Zeitung an die Bergbahnen blieb unbeantwortet.

Arbeiten auf schmelzenden Gletschern finden auch anderswo statt. Viele Experten argumentieren, dass im Sinne des Sports gepflegtes Eis sogar langsamer schmelze. Auch auf dem Theodulgletscher bei Zermatt wurden Bagger gesichtet – auch hier streiten Umweltschützer und Veranstalter. In der Woche nach Sölden soll dort eine spektakuläre Abfahrt debütieren. Fraglich nur, ob das Wetter passt. Der zu dieser Jahreszeit in über 3000 Metern höhe gewöhnliche Wind dürfte der Fairness jedenfalls nicht zuträglich sein.

Fair dagegen ist es, den Rennkalender getrennt von Bauarbeiten zu bewerten. Und bei Letzteren zwischen schon erschlossenen Gebieten oder Neuerschließungen zu unterscheiden. Doch vom Après-Ski-Gott bis zum Profi, vom Tellerliftbetreiber bis zum Bergbahnmogul – alle dürfen diese Frage stellen: Bis zu welchem Grad wollen wir die Umwelt an uns anpassen?

Wichtig: Skitouristen müssen sich die Frage nicht stellen, da sie im Vergleich besonders viel CO2 emittieren. Über die Hälfte ihres Ausstoßes verursacht die Anreise, den Großteil des Rests die Unterkunft – ähnlich zu anderen Reisen. Nur ein kleiner Anteil entsteht durch den Sport. Das wissen auch die, die davon profitieren, wenn der Weltcup die Werbung im Oktober ankurbelt: die Skiindustrie und die Tourismusbranche. Viel Unterstützung für den Sport treibt von dort aus. Viel Holz des Astes, auf dem der Sport sitzt.

Trotzdem stellt man sich der Frage auch dort. Wolfgang Mayrhofer, Chef von Atomic, sagt auf Anfrage: „Die Skiindustrie hat in der Vergangenheit von Bildern verschneiter Gletscher profitiert hat. In Zeiten des Klimawandels sind wir jedoch alle angehalten, alles zu tun um diesem entgegenzuwirken.“ Atomic unterstütze seine Athleten, wenn sie sich für mehr Klimaschutz und einen späteren Saisonstart einsetzen, so Mayrhofer weiter.

Barbara Winkler ist Vorsitzende des Tiroler Hotellerie-Landesverbands. Sie verstehe jeden Kollegen, der am frühen Start festhalten wolle: „Man ist es so gewohnt. Vor 20 Jahren haben wir Anfang Dezember oder zu Weihnachten aufgesperrt. Nun können wir dank der Technik und des Maschinenschnees früher aufsperren.“ Sie merkt allerdings auch an, dass man auf sich den Klimawandel einstellen müsse. Und dass es eine Chance sein könne, mit der Saison nach hinten zu rutschen. Nur: „Die Frage ist: Will der Hamburger im Frühling noch Skifahren?“

Ähnlich formuliert es Professor Dr. Marius Mayer, Tourismusforscher der Hochschule München: „Ein möglicher Ansatz wäre, ein Gletscherrennen stattdessen im März oder sogar April auszurichten, um zu signalisieren: Hier oben liegt noch viel Schnee.“ Mayer merkt aber an, die Wirkung dessen sei schwer abzuschätzen. Allerdings hänge die Buchungslage nicht nur von einem Rennen ab: „Es gibt gerade heute so viele Kommunikationsmöglichkeiten.“ Die Buchungslage in Sölden, Stand Mittwoch: Über die Plattform Booking.com fand sich für zwei Erwachsene mit zwei Kindern für sechs Nächte in der ersten Weihnachtsferienwoche noch eine Unterkunft, für die zweite ebenso.

Boomphasen des Skitourismus in den Alpen seien die Jahrzehnte gewesen, bevor es das Weltcup-Opening in Sölden gab (erstmals 1993), sagt Mayer. Bis in die frühen 80er Jahre hinein begann der Weltcup übrigens fast immer in Val-d’Isère – Anfang Dezember. Nach wie vor gastiert die Elite hier, auch diese Saison. Der Name der Veranstaltung ist seit der Premiere 1955 derselbe: Critérium de la première neige (Kriterium des ersten Schnees).

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