„Es droht eine Betrugskultur wie im Radsport“

von Redaktion

Fluorwachse sind ab dieser Saison verboten – doch der gut gemeinte Schritt könnte große Folgen haben

VON PATRICK REICHELT UND THOMAS JENSEN

München – Ein Szenario: Kira Weidle rast dem Ziel entgegen. Von Zwischenzeit zu Zwischenzeit jubeln die Fans im Ziel von Garmisch-Partenkirchen lauter. Die Starnbergerin fährt im Februar 2024 auf der Kandahar zu ihrem ersten Weltcupsieg. Aber es gibt auch Stirnrunzeln. Der Verdacht: Waren Weidles Ski mit Fluorwachs präpariert?

Im Skiweltcup sind solche Diskussionen bislang fremd. Auch im Langlauf oder Biathlon, wo das richtige Wachs eine noch größere Rolle spielt. Doch die allgemeine Unschuldsvermutung könnte nun leiden. Vor dieser Saison haben der Ski-Weltverband FIS und die Biathlon-Dachorganisation IBU gemeinsam das schon lange diskutierte Fluor-Verbot beschlossen. Fluor sorgte mit seiner wasserabweisenden Wirkung dafür, dass weniger Schmutz am Ski haftete. Doch mit dem erhofften Verschwinden des Fluors, droht der Schmutz nun an ganz anderer Stelle: Technologiedoping.

Das befürchtet unter anderem Charly Waibel, Bundestrainer Technik und Wissenschaft beim Deutschen Ski- Verband. Er hält das Kontrollverfahren für nicht verlässlich. Mittels Infrarot-Spektroskopie wird mit einem 30 000 Euro teuren Gerät gemessen. Der DSV hat mehrere dieser Geräte angeschafft. Das Ergebnis der zahlreichen Messungen laut Waibel: „Wir haben erhebliche Abweichungen festgestellt. Sowohl, wenn wir mit zwei verschiedenen Geräten, als auch wenn wir mit demselben Gerät mehrmals an derselben Stelle gemessen haben.“

Abweichungen bei Tests, die – wenn es im Ernstfall ähnlich aussieht – über Sieg und Niederlage entscheiden können, und damit über viel Geld. „Die Messtechnik mit der man Fluor in der Beschichtung nachweisen will, hat einen Fehlerbereich bzw. eine Messtoleranz von 0,8 Prozent, erläutert Waibel. Das 30 000 Euro teure Gerät ALPHA II misst auf per- und polyfluorierte Chemikalien. Bei einem Testergebnis von einem Prozent schlägt die Maschine an, es droht eine Disqualifikation. Wäre der Test verlässlich und würde bei fluorfreien Skiern stets 0,0 anzeigen wäre zu dieser Höchstmarke ausreichend Puffer. Doch den sieht Waibel durch die falschen Ergebnisse nicht.

Wobei die Angst vor der unberechtigten Disqualifikation übrigens nicht nur aus dem Misstrauen in die Technik erwächst. Unter entsprechenden Umständen halten Experten auch ein unbewusstes „Fluor-Doping“ für denkbar. Skisprung-Bundestrainer Stefan Horngacher etwa fürchtet, dass seine Athleten nicht zuletzt durch bloßen Abrieb von verbotenem Wachs auf der Schanze oder sogar in den Materialcontainern in den roten Bereich rutschen könnten. „Dann schlägt das Gerät an und keiner weiß warum“, sagte der Tiroler.

Natürlich haben die Verbände, allen voran der deutsche und der österreichische, ihre Bedenken vorgebracht. Auf viel Beachtung stießen sie nicht. Im Gegenteil: Die FIS wiegle die entsprechenden Hinweise „mit Floskeln ab“, erzählt Waibel. Man versucht mit Nachdruck, das beschlossene Vorgehen zu schützen. Was den streitbaren 57-Jährigen schwer erbost. „Mit so viel Halbwissen und Ignoranz die komplexen Zusammenhänge des Skirennsports in allen Facetten zu negieren, das habe ich noch nie erlebt.“

Immerhin: Bei den Skijägern sieht es zumindest ein bisschen besser aus, hat der Technik-Experte beobachtet. Die IBU gäbe durch ihr Vorgehen zu erkennen, dass sie die befürchteten Probleme anerkennt. Im Biathlon sind erst einmal gelbe Karten geplant, ehe es zu weiterführenden Sanktionen kommt.

Dabei ist die Sorge vor unberechtigten Strafen nur eine Seite der Medaille. So manch ein Experte befürchtet schlicht Missbrauch. „Der Grenzwert lässt sehr wohl auch zu, dass nicht unerhebliche Mengen von Fluor es durch den Test schaffen“, gibt der 57-Jährige an. Fluorwachs, das noch in vielen Schubladen liegt, könnte in der richtigen Dosierung unentdeckt bleiben. Wie hoch ist die Hemmschwelle, es zu probieren, wenn die Konkurrenz es auch probieren könnte? An hehre Werte wie Sportlichkeit und Fairness will nicht jeder glauben.

Waibel befürchtet sogar eine „Betrugskultur wie im Radsport der 90er-Jahre.“ Man muss die Zweirad-Artisten jener Zeit nicht verfolgt haben um zu ahnen: Die Sache könnte den Sport an den Abgrund befördern.

Auch bei den Athleten ist die Sorge vor einem Wachs-Chaos angekommen. Die deutsche Athletensprecherin Kira Weidle kündigte jüngst einen offenen Brief der Weltspitze an. „Wir sind nicht gegen ein Fluor-Verbot. Aber die Art und Weise, wie es gehandhabt wird, ist nicht fair. Wir sind diejenigen die darunter leiden“, sagt die beste deutsche Abfahrerin.

So weit will man bei den möglicherweise noch weit stärker betroffenen Disziplinen wie dem Langlauf noch nicht denken. Bundestrainer Peter Schlickenrieder ahnt, dass die Neuerung am Ende zu Lasten der kleineren Nationen gehen könnte. „Es könnte vor allem eine teure Angelegenheit werden“, sagte er, „die Testgeräte sind teuer.“ Dazu muss mit alternativen Wachsen stark experimentiert werden.

Auswirken dürfte sich das Problem aber keineswegs nur auf die Elite. „Unterhalb des Weltcups sind die Konsequenzen nicht weniger dramatisch. Nach allen Informationen die uns bisher vorliegen, sind auf Ebene der Continental Cups und der FIS-Rennen keine Kontrollen geplant“, erzählt Waibel. Offiziell schreibt die FIS, Tests auf unteren Ebenen würden auf zufälliger Basis durchgeführt. Stichproben also. Ein bisschen wie die Polizeikontrolle auf der Straße. Allerdings: Auch auf diesen Ebenen geht es um viel. Wer den Sprung nach oben schafft zum Beispiel. Oder noch existenzieller: Wer vom Verband gefördert wird oder nicht.

Übrigens: Das Fluor-Verbot hatte eigentlich ja ein durchaus ehrenwertes Ziel. Man hatte im Sinn, negative Folgen für die Skitechniker durch den übermäßigen Kontakt zu vermeiden. Genauso wie Schäden für die Umwelt, in der Rückstände des kritischen Stoffes bleiben. Doch auch am Erfolg dieses Vorhabens existieren Zweifel. „Silikone, Siloxane, Chrom, Bor, Schwermetalle“, zählt Waibel die alternativen Stoffe auf, die gerade erprobt werden. „Die Warnhinweise für Mensch und Umwelt mindestens genauso gravierend“, hängt er an und kommentiert lapidar: „Beinahe ein Treppenwitz.“

Allerdings einer, bei dem die Treppe nach unten geht.

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