Nehmen wir das Kalenderjahr 2023, das ja irgendwie auch den Zeitraum einer Saison abdeckt. Kleines Ratespiel: Welcher Club aus den fünf großen europäischen Ligen (England, Spanien, Italien, Frankreich, Deutschland) sammelte die meisten Punkte? Die Fragestellung deutet an, dass die Lösung eine überraschende sein muss: Borussia Dortmund. Mit Wiederaufnahme des Spielbetriebs in der Bundesliga nach der WM begann eine Aufholjagd, die den BVB zwischenzeitlich am bereits enteilt scheinenden FC Bayern vorbeiführte – und auch in der acht Spieltage alten neuen Saison weigern die Schwarz-Gelben sich, in der Bundesliga zu verlieren. Sie haben eine Ergebnis-Stabilität entwickelt, die selbst die von Manchester City, FC Barcelona, Paris Saint-Germain, Neapel oder sonst wem übertrifft.
Dabei weicht das Stimmungsbild deutlich ab von dem, das die Fakten schaffen. Nachdem den Dortmundern die Deutsche Meisterschaft im Mai auf dramatischste Art und Weise entglitten war, glaubte man, Verein und Mannschaft würden dieses Trauma nicht verarbeiten können. Und als der Vortrag auf dem Rasen in der Bundesliga 2023/24 schleppend anmutete, waren selbst die loyalen Besucher der „Süd“ bereit, Trainer Edin Terzic, ihren ehemaligen Mitsteher und Musterbeispiel für Identifikation mit seinem Club, zum erledigten Fall zu erklären. Man diskutierte gar schon: Julian Nagelsmann verpflichten?
Die Lage in Dortmund hat sich beruhigt. Vielleicht liegt es daran, dass Bayer Leverkusen dem BVB die Rolle und die damit verbundene Last, die Meisterschafts-Alternative zum FC Bayern zu sein, abgenommen hat. Womöglich ist Terzic als Trainer aber doch nicht so limitiert, wie die Taktikblogger meinen. In seinem ersten Jahr ist es ihm gelungen, die Mannschaft so hinzukriegen, dass sie den Abgang von Erling Haaland auffing, und nun kommt sie irgendwie damit zurecht, dass Jude Bellingham nicht mehr da ist.
Sogar in der Champions League wird Dortmund nicht abgeschossen. Der 1:0-Sieg bei den Stinkneureichen in Newcastle zeigte einen reifen, kühlen, ökonomischen BVB. 1:0 ist überhaupt ein kluges Ergebnis für ein Team, das in der Vergangenheit oft fünf rausgeballert, vor der Kurve gefeiert und anschließend beim Vorletzten verloren hat. Vielleicht war es ein Tipp des externen Beraters Matthias Sammer, dass fünf 1:0 mehr bringen als ein 5:0. Falls ja: Was für ein Fuchs!
Guenter.Klein@ovb.net