Selbst der Chefkritiker wurde überrascht

von Redaktion

Hamann hat nicht auf Saarbrücken gewettet – nun aber denkt er an eine „titellose Saison“

VON HANNA RAIF UND PHILIPP KESSLER

München – Es wäre gestern Morgen alles angerichtet gewesen für Didi Hamann. Die Tafel im edlen „Ministerzimmer“ eines noblen Münchner Hotels war weiß eingedeckt, die Eindrücke vom Pokal-Aus des FC Bayern waren noch keine zwölf Stunden alt. Aber der Sky-Experte – zuletzt als Chefkritiker des FC Bayern aktiv – blieb ehrlich. Auf die Frage, ob er die Blamage, die sich am Vorabend beim Drittliga-15. abgespielt hatte, habe kommen sehen, sagte der 50-Jährige kurz und knapp: „Ne!“ Schmunzelnd schob er hinterher: „Sonst hätte ich viel Geld gewonnen.“

Anekdoten wie diese gehören dazu, wenn der FC Bayern eine empfindliche Niederlage erfährt. Traditionell wird dann viel geredet, traditionell fällt die Bewertung nicht gut aus. Die Aussagen von Hamann aber sind ein Sonderfall. Keine Woche war es gestern her, dass Tuchel den Ex-Bayern nach wiederholter Kritik als „nicht wichtig genug“ bezeichnet hatte, um sich mit ihm zu beschäftigen. Trotzdem spricht Hamann – das ist sein Job – weiter über den Verein, dem er „auch viel zu verdanken hat“.Knapp zehn Jahre lang war er ein Roter, genau aus diesem Grund will er „verstehen, was da gerade passiert“. Es gehe ihm „um die Sache, nicht um Tuchel“, sagt er. Die Kritik richtet sich daher an alle Ebenen: die Bosse, die Spieler – aber auch den Trainer.

„Seitdem er hier ist, ist die Entwicklung nicht gut“, sagt Hamann in Richtung Tuchel und geht noch weiter. Er spricht den Bayern aktuell die Fähigkeit ab, „Spiele zu kontrollieren“. Für ihn sei nur logisch, dass man ohne Stabilität „auf Dauer auf die Nase“ falle, und Tuchel habe es eben versäumt, in den vergangenen sieben Monaten „eine Einheit zu formen“. Stand jetzt fehlt Hamann daher „die Fantasie“, wie der Coach die Kurve zu alter Bayern-Stärke finden will. Hamann sagt: „Bayern hat seine Unantastbarkeit verloren.“ Und er denkt sogar an eine „titellose Saison“, also den Super-GAU.

In der Pflicht, diesen abzuwenden, sind für ihn freilich die Spieler. Aber Hamann sieht „aktuell niemanden, der vorangeht“. Die Rückkehr von Manuel Neuer „wird helfen“, auch Thomas Müllers Wirken sei wichtig. Dennoch hat er „viele Bedenken, ob das in dieser Konstellation noch funktioniert“. Bewusst wirft er die Frage in den Raum: „Wie viele Spieler gehen für den Trainer durchs Feuer?“ Die Antwort kann im „Klassiker“ am Samstagabend (18.30 Uhr) in Dortmund gegeben werden.

„Die Vorzeichen für den BVB“, sagt Hamann, „könnten nicht besser sein“. Trotzdem gilt für den Tabellenvierten: „Verlieren verboten!“ Bei einer Niederlage wären es schon fünf Punkte Rückstand auf die Bayern, trotzdem sieht Hamann die Chance auf den 12. Serien-Meistertitel der Münchner bei gerade mal „50 Prozent“. Tabellenführer Leverkusen und RB Leipzig müsse man auf dem Zettel haben, wenn es im Frühjahr um die Wurst geht. Bis dahin aber gilt es mit Blick auf den Rekordmeister erst mal, „die unbefriedigende Entwicklung“ aufzuhalten: „Du musst auch schauen, dass du die Fans nicht verlierst.“

Der direkte Austausch wird bei der Jahreshauptversammlung am 12. November stattfinden. Da wird es um das Spiel auf dem Platz, aber auch das Wirken der Transfer-Taskforce gehen. Dem im Sommer gegründeten Gremium stellt Hamann kein sonderlich gutes Zeugnis aus. Allein das Leihgeschäft von Josip Stanisic, den man aktuell gut gebrauchen könne, sei „ein Armutszeugnis“ für den Verein, über eine angeblich angedachte Rückholaktion aus Leverkusen könne er „nur den Kopf schütteln“. Zudem gilt für Hamann: „Du kannst nicht Kane und Kim holen – und dann keinen Titel gewinnen!“ Im Winter nachzurüsten, wie von Uli Hoeneß angekündigt, werde schwer. Zudem wünscht Hamann sich als Verhandlungsführer „eine starke Hand“ wie etwa jene von Max Eberl.

„Die Situation in München könnte für Max schlechter sein“, sagt Hamann, der den Blick sogar noch weiter in die Zukunft richtet. Angesprochen auf Leverkusens Trainer Alonso antwortet er: „Er wird irgendwann in München sein.“ Beim „Clasico“ an diesem Samstag aber wird der 41-Jährige nach dem eigenen Spiel in Hoffenheim nur TV-Zuschauer sein. Und schauen, ob womöglich doch eintrifft, was Hamann andeutete: „So eine Niederlage kann auch etwas Reinigendes haben. Manchmal kommt es anders, als man denkt.“ Ein Mutmacher vom Chefkritiker.

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