„Bayern? Seit zwei Jahren im Abwärtstrend“

von Redaktion

Jürgen Kohler über Tuchels Bilanz, Bayerns Abwehrschwäche und Dortmunder Druck

Jürgen Kohler hat über 250 Spiele für Bayern und Dortmund absolviert. Vor dem Spitzenspiel spricht der 58-Jährige mit unserer Zeitung über seine beiden Ex-Vereine.

Herr Kohler, haben Sie am Mittwoch Pokal geschaut?

Aber natürlich. Erst BVB, dann Bayern.

Mit welchen Eindrücken?

Vom BVB ist das in Ordnung gewesen, bei den Bayern ist natürlich eine Enttäuschung da. Die Saison ist noch jung, der Kader ist dünn – aber ich hätte mir schon gewünscht, dass man in so einem Spiel eine Reaktion zeigt. Auch mit einer Mannschaft, die nicht die volle Kapelle ist.

Was bedeutet die misslungene Generalprobe?

Für mich ist das Spiel so früh in der Saison noch keine Standortbestimmung. Aber natürlich haben Siege immer Auswirkungen aufs Selbstvertrauen. Jetzt stehen sie nach dem Aus enorm unter Druck – denn Bayern hat nur noch zwei Titel zu gewinnen. Es kann gefährlich werden.

Haben die Bayern mehr Druck als Dortmund?

Die Dortmunder haben schon auch Druck. In der letzten Saison hatten sie das Heft des Handelns in der Hand und sind nicht Meister geworden – mir können die Leute erzählen, was sie wollen, aber das schwingt noch mit in den Köpfen. Deshalb ist es umso wichtiger, was der BVB gerade macht: sich über Ergebnisse Selbstvertrauen zu holen. Richtig gut spielen tun die ja auch nicht.

Ähnlich war es bei den Bayern bis Mittwoch auch.

Das stimmt. Aber mir fällt bei Bayern schon seit eineinhalb, zwei Jahren dieser Abwärtstrend im Spiel auf. Die Passtechnik, die Besetzung der Positionen, da stimmt es nicht. Da hat man genau die gleichen Probleme wie Dortmund. Die, die es aktuell am besten machen, sind die Leverkusener.

… die man als Bayern ernster nehmen sollte als den BVB?

Die Bayern werden immer gejagt. Dieses Jahr gleich von mehreren Mannschaften, was die Sache nicht leichter macht. Leverkusen hat vielleicht weniger Möglichkeiten, hat es aber mit gezielten Einkäufen geschafft, die Mannschaft besser zu machen. Dazu kommt Xabi Alonso, der sein Team täglich besser macht.

Kritiker sagen, das ist Tuchel in sieben Monaten nicht gelungen.

Es gibt Luft nach oben. Und es fühlt sich nicht besser an, wenn man einen Titel schon mal verspielt hat. Dazu kommt, dass es in der Bundesliga auch holprig läuft für die Bayern.

Nach dem 8:0 gegen Darmstadt waren die Jubeltöne aber hoch.

Wenn man sich das Spiel genau angeschaut hat, war doch Darmstadt bis zu den Platzverweisen besser als Bayern. Und im 10 gegen 10 auch noch. Die Probleme, die man nun in Saarbrücken hatte, haben sich angekündigt.

Hinzu kommt am Samstag das Fehlen von Matthijs de Ligt und Joshua Kimmich.

Zwei Spieler der Achse, die wichtig sind und Qualität haben. Hinter die Abwehr der Bayern, besonders de Ligt und Dayot Upamecano, mache ich aber gerne mal ein Fragezeichen. Beide haben wiederkehrende Fehler in ihrem Spiel, immer! Und zwar nicht nur in einer Saison, sondern in zwei, drei Spielzeiten jetzt schon. Trotzdem geht es für mich im Fußball um die Schlüsselpositionen Sturm und Tor. Da hat man Harry Kane und endlich Manuel Neuer wieder. Das ist wichtig!

Kann er die Mannschaft in einem so wichtigen Spiel schon wieder führen?

Natürlich will er Leader sein, das Team führen. Er findet Gehör. Trotzdem muss er in den nächsten Wochen und Monaten erst mal selbst schauen, dass er gesund bleibt und keine Rückschläge erleidet.

Ist das Spiel gegen Dortmund für ihn die erste Reifeprüfung?

Es ist eine Reifeprüfung für alle, denn alle sind in der Bringschuld. Ich habe auch mit Bayern in Weinheim verloren im Pokal, mit dem BVB in Trier. Aber da hatte man wenigstens eine Reaktion während des Spiels gesehen. Das habe ich in Saarbrücken vermisst.

Kritiker sagen, diese Bayern-Mannschaft sei keine Einheit.

Siege verschaffen dir Selbstvertrauen, Siege formen Einheiten. Es ist vielleicht eine Plattitüde, aber man kann sich Glück auch erarbeiten. Wenn man Ergebnisse fährt, ergeben sich Automatismen, das Vertrauen in die eigene Stärke, der Glaube in die eigene Mannschaft. Da reicht es aber nicht, immer mal wieder ein paar Spiele zu gewinnen, sondern echte Serien. So weit sind die Bayern noch nicht.

Ein Versäumnis von Tuchel?

Da stellt sich die Frage von Ursache und Wirkung. Unter Julian Nagelsmann war es ja auch nicht besser. Ich erinnere mich da lieber an Pep Guardiola, Jupp Heynckes, auch Louis van Gaal. Unter diesen Trainern habe ich etwas gesehen, das mir heute fehlt. Auch wenn sie bei Weitem nicht alle Spiele gewonnen haben.

Wofür steht Tuchel denn?

Mir geht es nicht um einzelne Philosophien, da bin ich auch zu weit weg. Aber ich rede gerne über den gesamten deutschen Fußball und die Bundesliga. Da höre ich immer: Die anderen Nationen haben aufgeholt. Man sollte aber eher sagen: Wir haben selbst nachgelassen. Aus jeder Dekade ab den Siebziger-Jahren könnten Sie bestimmt zwei deutsche Weltklasse-Spieler nennen, oder?

Das würde ich schaffen.

Und jetzt nennen Sie mir außer Messi und Ronaldo zwei internationale, die ganze Dekaden geprägt haben.

Mbappé!

Der zählt. Aber darüber hinaus wird es eng. Und das sagt für mich alles aus. Für mich zählt unter diesen Punkt auch diese ganze Datensammlerei. Da hat einer 95 Prozent seiner Zweikämpfe gewonnen, verliert aber jede Woche den entscheidenden. Ja, wo kommen wir denn da hin?

Ihnen ist alles zu wissenschaftlich geworden?

Irgendwann werden wir die Spieler mit Joysticks steuern hier bei uns (lacht). Spaß beiseite: Mir fehlt der Weitblick – und deshalb sorge ich mich um die Bundesliga. Da geht es nicht ums Geld, sondern mit den Trainern und dem Umgang mit den Spielern. Man muss schon genau hinschauen, welche Maßnahmen man jetzt ergreifen kann, um auch irgendwann mal wieder Weltklasse-Spieler zu haben. Denn da sehe ich Manuel Neuer – und dann lange nichts.

Welche Spieler werden den „Klassiker“ am Samstag entscheiden?

Das Spiel wird definitiv über die Abwehr entschieden.

Das mussten Sie ja jetzt sagen!

Ich sage aber auch, dass die Meisterschaft nicht an diesem Samstag entschieden wird. Das ist anders als im Pokal, dem einfachsten Titel. Den ich aber irgendwie nie gewonnen habe (lacht).

Dafür haben Sie mehr Meistertitel mit dem BVB als mit Bayern geholt.

Stimmt. Das haben nicht viele andere.

Haben Sie das Duell lieber im BVB- oder im Bayern-Dress gespielt?

Das war egal – weil ich meist gewonnen habe (lacht). Ich hatte das Glück, immer in großen Mannschaften mitspielen zu dürfen.

Jetzt machen Sie sich kleiner, als Sie sind.

Ich bin 1,86 Meter groß und wiege 92 Kilo. Zu meinen Profi-Zeiten waren es 86 – aber ich halte mich gut!

Interview: Hanna Raif

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