Man stelle sich mal vor, was in München passiert wäre – und muss kein Prophet sein, um zu dem Schluss zu kommen, dass Thomas Tuchel in seinem Amt nicht überlebt hätte. In einem Verein, in dem sich ein Trainer rechtfertigen muss, wenn er ein Mal – zugegeben: zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt – verliert, wären zwölf Pleiten in Folge der absolute Super-GAU, Weltuntergangsstimmung inklusive. Ohne Frage, auch Union Berlin hat die Pleiten-Serie wehgetan, Rückschläge in Dauerschleife hinterlassen Spuren. Aber die Verantwortlichen haben sich nicht verrückt machen lassen, sondern auf die eigene Stärke, Urs Fischer und das Schicksal vertraut. Was die Bilder, die da am Mittwoch aus Neapel gesendet wurden, noch ein bisschen schöner erscheinen lässt.
Der Stein, der allen Beteiligten da 1300 Meter südlich vom Herzen fiel, war noch in Berlin zu hören; die Erleichterung so groß, dass paradoxerweise die einzige deutsche Mannschaft, die das Achtelfinale sicher verpassen wird, die größte Party feierte. Das 1:1 in Neapel fühlte sich größer an als die Siege, die Dortmund gegen Newcastle (2:0), Leipzig in Belgrad (2:1) und der FC Bayern gegen Istanbul (2:1) gefeiert haben. Dass es dennoch – im besten Fall – den Abstieg in die Europa League besiegelte, war absolut zweitrangig. Für Union selbst, aber auch die bisherige Königsklassen-Bilanz der Bundesliga, die sich – Stand jetzt – doch recht erfreulich liest.
Im Vorjahr schafften es vier von fünf deutschen Startern in die K.o.-Runde, heuer könnten es drei von vier sein. Allerdings gehört auch zur Wahrheit, dass in der Runde der besten 16 ab dem Frühjahr nur noch der FC Bayern und im Halbfinale kein deutscher Club mehr dabei waren. Da half es auch wenig, sich auf die perfekte Gruppenphase zu berufen, die makellose Bilanz, die sich heuer in München fortsetzt. Der Erfolg gegen Istanbul war der 16. Dreier in Serie, den der FC Bayern in der Vorrunde einfuhr. Das ist beeindruckend, ohne Frage. Es zählt aber in den Spielen 2024, in denen man von Tuchels Elf mehr erwartet als zuletzt, nichts mehr.
Da wären die Ansprüche wieder das richtige Stichwort – nur der umgekehrte Gedankengang bietet sich leider nicht an. Denn Union Berlin hat in seiner Vereinsgeschichte noch nicht mal 16 Champions-League-Gruppenspiele absolviert. Die Fußball-Welt ist eine andere in Berlin. Herrlich erfrischend – und seit Mittwoch um den allerersten Königsklassen-Punkt reicher.
Hanna.Raif@ovb.net