„Ich möchte mir treu bleiben“

von Redaktion

FCB-Boss Dreesen über das neue Mia san mia, seine Handschrift, den Fall Mazraoui und Star-Einkauf Kane

München – Bester Laune erscheint Jan-Christian Dreesen (56) – und der Blick im Zimmer geht freilich zu den Pokalen. Zwei Stück stehen im Besprechungsraum, also einer mehr als auf dem Podium der Jahreshauptversammlung, die der FC Bayern am Sonntag abhält. Der Titelhunger ist groß in diesem Club, kurz- wie langfristig. Für das Gespräch über Herausforderungen und Visionen nimmt sich der Vorstandsvorsitzende daher viel Zeit.

Herr Dreesen, Sie haben mal verraten, nach großen Siegen zu singen. Was wurde am Samstag in Dortmund geträllert?

Gar nichts – wir haben uns nach innen gefreut. Ich habe diesen Abend genossen, in der Kabine hat man gespürt, dass von den Spielern eine unglaubliche Last abgefallen ist.

Fiebern Sie in solchen Spielen als CEO anders mit als in ihrer vergangenen Rolle als Finanzvorstand?

Natürlich habe ich schon immer mitgefiebert, war mit 100 Prozent dabei. In der neuen Rolle (als Vorstandsvorsitzender/d. Red.) ist es trotzdem eine andere Situation: Ich habe schließlich eine größere Verantwortung und stehe noch mehr im Fokus. Hier und da fällt dann ein noch größerer Stein vom Herzen.

Ihr erklärtes Ziel war es, das Miteinander zu stärken. Wo steht die interne „Mia san mia“-Skala?

Es ist mir wichtig, dass wir im Verein geschlossen auftreten. Gegen Dortmund war die Mannschaft als Einheit auf dem Rasen. Das Gleiche gilt für jeden im Club, ob Staff oder Verwaltung. Ich glaube, dass wir da auf einem guten Weg sind. Dafür muss man sich vertrauen und transparent miteinander umgehen. Selbst wenn das auch einmal unbequem ist.

Ein Stimmungsbarometer ist die Jahreshauptversammlung. Schon als CFO sagten Sie: „Beim zehnten Mal war ich noch nervös.“ Wie wird es diesmal?

Die Jahreshauptversammlung ist für uns als Club der wichtigste Tag des Jahres, an dem wir mit unseren Mitgliedern zusammenkommen und uns austauschen. Deshalb nenne ich es einen „Feiertag“. Eigentlich hatte ich eine Routine entwickelt, durch meine neue Funktion hat sich das aber wieder geändert – deswegen bin ich auch diesmal nervös. Ich glaube aber nicht, dass das etwas Schlimmes ist. Lampenfieber ist auch immer ein Zeichen des Respekts vor der Situation.

Die Fans nutzen die Kurve wöchentlich für plakative Statements. Ist Ihnen der Fußball zu politisch?

Der Fußball ist in Deutschland mit großem Abstand die Sportart Nummer eins. Durch dieses Privileg ergibt sich auch eine besondere Verantwortung, die über den reinen Fußball hinausgeht.

Inwiefern?

Wir sind auch die Projektionsfläche gesellschaftspolitischer Diskurse geworden. Wünsche ich mir das oder finde ich es immer gut? Nein. Müssen wir aber akzeptieren, dass bei diesen vielen Millionen Zuschauern Dinge außerhalb des Fußballs für die Menschen eine Rolle spielen? Auf jeden Fall – und dabei spielt die aktive Fanszene eine große Rolle. Das muss uns nicht immer gefallen, aber nicht immer gefallen, aber diese Interaktion und der kritische Dialog tun uns gut. Sie sorgen dafür, dass wir nicht selbstgefällig und bequem werden. Dabei geht es nicht ums Kuscheln, schließlich muss uns nicht jedes Banner gefallen. Manchmal gilt auch: „agree to disagree“ (Ich stimme zu, dir nicht zuzustimmen, Anm. d. Red.).

Im Fall Noussair Mazraoui musste der Verein sportliche und politische Aspekte abwägen.

Wir leben seit dem 7. Oktober in einer geopolitisch neuen Zeit, die uns einen lang existierenden Konflikt in seiner ganzen Grausamkeit vor Augen führt. Durch den brutalen Überfall der Hamas auf Israel hat sich eine Situation ergeben, die auch für viele Vereine schwierig ist. In unserem Fall haben wir in Noussair Mazraoui einen Spieler, der bei seinem Aufenthalt beim Nationalteam etwas gepostet hat, was einen enormen Widerhall gefunden hat.

Der Druck auf Sie war groß.

Es wäre das Allerleichteste gewesen, den Spieler einfach zu verurteilen und ihn plakativ zu sanktionieren. Aber Noussair hat in den vielen Gesprächen sehr deutlich und glaubhaft zum Ausdruck gebracht, dass er keinerlei antisemitisches, israelfeindliches oder gar terrorverharmlosendes Gedankengut in sich trägt. Er hat außerdem von Anfang an sein Gesprächsangebot mit der jüdischen Gemeinde zum Ausdruck gebracht. Das war ein offenes, gutes und vertrauensvolles Gespräch, das inzwischen stattgefunden hat. Wer sind wir denn, das nicht zunächst einmal anzunehmen? Klar ist aber auch: Wenn es in Zukunft Verfehlungen gibt, gibt es natürlich Sanktionen.

Waren das Ihre bisher schwersten Tage als CEO?

Diese Wochen waren auch für mich persönlich eine große Herausforderung, die man so erst mal nicht kommen sieht. Schließlich bin ich Vorstand eines Fußballclubs, keiner politischen Partei.

Vor einem knappen Jahrzehnt war Ihre Version für 2023, dass der FC Bayern noch die erste Geige in Europa spielt. Tut er das?

Wir müssen uns heute noch mehr anstrengen, um ganz oben mitzuspielen. Aber wir zählen nach wie vor zum Kreis der europäischen Top-Fünf – und ich glaube, das gilt auch noch in zehn Jahren.

Sie sind durch Ihre Position in der European Club Association (ECA) sehr gut vernetzt …

…und auch da höre ich, so wie aus dem gesamten Weltfußball, dass der FC Bayern ein enormes Ansehen besitzt.

Im Exekutiv-Board sind sie das einzige deutsche Mitglied. Mit welchen Zielen?

Die Rolle als erster Vizepräsident drückt auch die Erwartungen an mich aus. Wir wollen unsere Idee, unser Selbstverständnis nutzen für einen Fußball, der auch in Zukunft nicht ausschließlich investoren- oder kommerzbestimmt ist. Es gibt viel zu tun. Das muss nicht immer bequem sein – aber das steht auch nicht immer in der Arbeitsbeschreibung (lacht).

Finanziell aber wird die Lücke zur internationalen Konkurrenz immer größer.

Trotzdem müssen und wollen wir kompetitiv sein. Und wenn wir vergleichsweise wenig TV-Geld einnehmen, müssen wir eben neue Wege finden. Eine Möglichkeit wäre, eine Transfermaschine zu werden, aber das ist nicht unsere Philosophie. Das Transfergeschäft ist für uns Mittel zum Zweck, um das Team zu verbessern. Es ist nicht unser primärer Weg, Geld zu verdienen. Unser Feld ist daher klein. Wir müssen Partner finden, selber über mediale Vermarktungspotenziale nachdenken. Denn sonst verlieren wir den Anschluss.

Haben Sie so einen flammenden Appell auch schon vor Uli Hoeneß gehalten?

Natürlich rede ich mit ihm über die Visionen. Und das Interesse, Geld zu verdienen, kann man Uli Hoeneß sicher nicht absprechen (lacht).

Wie viel bayerischen und westfälischen Einfluss erträgt ein Ostfriese eigentlich in seinem Amt?

Den Westfalen sagt man einen Sturkopf nach, den Ostfriesen unterstellt man ein gewisses Unterkühltsein – und den Bayern, dass man lange braucht, um ihnen näherzukommen. Womöglich wird daraus ein „FC Bayern Special Blend“ (Spezial-Mischung/d.Red.). Jeder muss sich selbst treu bleiben, auch ich möchte mir selbst treu bleiben. Ich heiße weder Karl-Heinz Rummenigge noch Uli Hoeneß, ich heiße Jan Dreesen. Und ich muss deshalb auch authentisch sein.

Sind Sie eine Übergangs- oder Dauerlösung?

Ehrlich gesagt: Die Frage stelle ich mir gar nicht. Ich mache das, was ich tue, sehr gerne. Ich mache es so gut, wie es geht. Und ich hoffe, dass ich in dieser Zeit etwas bewegen kann – im besten Sinne für den FC Bayern München.

Mit Abstand: Würden Sie wieder eine Transfer-Taskforce gründen?

Diese Taskforce hat sehr viele sehr gute Sachen gemacht, beim Kaufen und beim Verkaufen. Sie wurde in einer Situation geschaffen, als wir keinen Sportdirektor hatten. Dennoch ist klar, dass ich die letzten zwei Tage vor Transferschluss so nicht noch einmal erleben möchte. Das war nicht vergnügungssteuerpflichtig und es war vor allem sehr ärgerlich. Trotzdem müssen wir jetzt damit umgehen.

Das Wort „Kreativität“ ist die Geschichte der Hinrunde. Triezen Sie Tuchel damit gerne mal?

Da habe ich etwas gesagt (lacht). Aber ich habe es genauso gemeint. Wenn wir uns mal zurückerinnern an Louis van Gaal: Da sind junge Talente rausgekommen. Den Bogen sollte man also genau von da aus spannen – Thomas und ich tauschen uns in einem wirklich guten Miteinander aus, wir haben eine stabile Vertrauensbasis.

Er findet den Kader aber doch dünner als Sie, oder?

Wir haben im Moment in der Abwehr eine Sondersituation, die nicht vorhersehbar war. Natürlich stößt der Kader im Falle von Verletzungen an gewisse Grenzen. Aber solche Situationen sind gemacht für die jungen Talente. Erinnern wir uns an Alphonso Davies, der David Alaba auf links ersetzte! Erinnern wir uns an Jamal Musiala, der reinkam, als Philippe Coutinho, Thiago und Serge Gnabry verletzt waren! Jetzt bekommen Frans Krätzig und Aleksandar Pavlovic ihre Chancen, und das sind auch die Geschichten, die wir als Club schreiben wollen.

Tuchel fühlt sich öffentlich ungerecht behandelt, hat von Ihnen und den Vorstandskollegen aber volle Rückendeckung für seinen TV-Auftritt bekommen. Nur in der Sache – oder auch in der Art und Weise?

Thomas hat jetzt über die Wochen so viel Kritik einstecken müssen. Wir gewinnen am laufenden Band, es ist der beste Bundesligastart seit acht Jahren, wir stehen als Gruppensieger im Achtelfinale der Champions League. Und dann ist da dieses eine Spiel in Saarbrücken. Glauben Sie mir: Das tut richtig weh! Dem Trainer, jedem Spieler, uns. Verdammt noch mal! Wir wollten nach Berlin fahren und diesen Pokal gewinnen! Aber es ist ungerecht, dass sich dann sofort Kritik und Häme ausschüttet, die wenig Maß kennt. Hätte Thomas mich vorher gefragt, hätte ich in kompletter Überzeugung gesagt: Du hast die 100-prozentige Unterstützung vom Club – und von mir. Mach es genauso!

Am Montag tagt der Aufsichtsrat. Ist der Name Max Eberl nun schon an Sie herangetragen worden?

Die Wasserstandsmeldung ist noch dieselbe: nein.

Würde die Installation eines Sportvorstandes auch Ihnen Aufgaben nehmen?

Auch jetzt schon ist ja Christoph Freund für Transfers verantwortlich. Als Vorsitzender bin ich da immer mit eingebunden. Daran würde sich auch in einer neuen Konstellation nichts ändern. Früher habe ich sehr intensiv Transfers begleitet, zwischendurch weniger, weil Hasan Salihamidzic diese Rolle übernommen hat, mehr als andere Sport-Verantwortliche vor ihm. Dieser Sommer in seiner Konstellation war natürlich außergewöhnlich.

Auch im Kane-Poker waren Sie federführend. Hat er die 100 Mio. Euro schon zurückgezahlt?

Wir hätten nie in dieses oberste Regal gegriffen, wenn wir uns nicht sicher gewesen wären, was Harry unserem Club geben kann. Unsere Rechnung geht nun auf. Dass es so schnell in dieser Art und Weise geht, ist aber auch für uns nahezu unfassbar. Da geht es um die Tore, die Assists, und vor allem darum, wie er unser Spiel verändert. Er macht uns weniger ausrechenbar. Das nährt unser aller Hoffnung.

Es werden Vergleiche zu Gerd Müller gezogen…

Das kommt zu früh. Wir wollen keine unnötigen Gewichte auf seine Schulter hängen.

Mit ihm und Manuel Neuer hat man wieder stabile Eckpfeiler einer Achse. Ist das der Schlüssel zu mehr als dem Viertelfinale der Champions League?

Ein Neuer und Kane in Topform sind zwei gute Argumente, warum es in der Meisterschaft und der Champions League ganz, ganz weit gehen kann. Dass wir Meister werden wollen, ist klar. Und an ein Champions-League-Finale in Wembley haben wir gute Erinnerungen…

Gesetzt dem Fall: Sehen wir Sie dann singend auf dem Rathaus- balkon?

Das kann gut sein. Ich singe dann: So ein Tag, so wunderschön wie heute (lacht).

Interview: Hanna Raif und Vinzent Tschirpke

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