Frankfurt/Main – Julian Nagelsmann sollte beim großen Marketing-Tag am DFB-Campus schon mal den EM-Jubel proben – stattdessen kam er als Improvisationskünstler kaum hinterher. Gratulieren, streichen, nachnominieren, weitere Absagen moderieren: Der letzte Lehrgang des Länderspieljahres ist erheblich gestört, bevor er so richtig begonnen hat.
Robin Gosens und Malick Thiaw werden Vater, sie meldeten sich erstaunlicherweise unmittelbar nach Bekanntgabe der da noch 27 Spieler umfassenden Nominierungsliste für die Duelle mit der Türkei und Österreich ab: aus erfreulichem Grunde.
Am Montag folgten dann schlechte Nachrichten im Halbstundentakt. Auf die verletzungsbedingte Absage von Felix Nmecha (Dortmund/Hüftprobleme) reagierte der Bundestrainer mit der erstmaligen Berufung des Mittelfeldspielers Grischa Prömel („Ein Traum geht in Erfüllung“) – beide kennen sich bestens aus Nagelsmanns Hoffenheimer Zeit.
Auch Marvin Ducksch und Torhüter Janis Blaswich sind neu. Chris Führich (Infekt) wird entweder verspätet oder gar nicht kommen, Nagelsmann verzichtet auf einen Ersatz. Jamal Musiala ist verletzt, Mats Hummels und Leon Goretzka sind leicht angeschlagen.
Dabei wollte der Bundestrainer in Ruhe sein EM-Fundament legen und noch ein wenig experimentieren. Beim Heimturnier im Sommer solle sich Deutschland in der Riege der Titelanwärter direkt „hinter Frankreich einreihen, die für mich der Topfavorit sind“, wie Sportdirektor Rudi Völler im BR-Interview betonte. Für Nagelsmann steht dabei „stabiles Verteidigen“ auf der Prioritätenliste ganz oben: „Das müssen wir jetzt hinkriegen.“
Doch Gosens und Thiaw fehlen, die Position des Rechtsverteidigers ist überdies eine ewige Baustelle. Nagelsmann wird in den kommenden Tagen entscheiden müssen, ob er sie mit der Abberufung von Joshua Kimmich aus dem defensiven Mittelfeld schließen will. „Dass er beide Positionen spielen kann, hat er bewiesen. Weltklasse ist er für mich aber nur als Rechtsverteidiger“, sagte der ehemalige DFB-Spielführer Michael Ballack zuletzt und lieferte eine Erklärung gleich hinterher: „Im Zentrum will er manchmal zu viel. Das macht die Mannschaft mitunter anfällig.“ Für Lothar Matthäus kann das Duo Kimmich/Gündogan funktionieren. „Es muss ganz klar sein: Der eine ist die Sechs, der andere die Acht. Das kann im Spiel mal variieren, aber nicht permanent“, schrieb der Rekordnationalspieler in seiner Sky-Kolumne.
Bayern-Star Kimmich huschte am Vormittag wie alle seine Kollegen wortlos in den Wolkenkratzer des Frankfurter Melia-Hotels. Wenig später ging es schon wieder los zum Abdrehen der Social-Media-Clips und TV-Beiträge zur EM. Nagelsmann brachte den Pflichttermin hinter sich, um schnell wieder tüfteln zu können. Die Aufbruchstimmung der USA-Reise will sich der Bundestrainer keinesfalls verderben lassen, gute Laune bei trübem Wetter ist angesagt.
Schließlich warten zwei Länderspiele, die er unter das Schlagwort „Emotionalität“ gestellt hat: Zehntausende türkische Fans werden das ausverkaufte Berliner Olympiastadion zum Brodeln bringen, auch in Wien, „in einer wunderschönen Stadt, in einem sehr geschichtsträchtigen Stadion“, wie Nagelsmann schwärmte, wird es heiß hergehen. „Das wird sehr, sehr laut“, sagte er: „Wir freuen uns auch, wenn die deutschen Fans mitgrölen und dagegenhalten.“