Im Hinblick auf die bevorstehende Europameisterschaft im eigenen Land sieht sich Julian Nagelsmann ein gutes halbes Jahr vor Turnierstart zum Experimentieren gezwungen. Die Problemzone ist eine altbekannte: Es gibt in der deutschen Fußball-Nationalmannschaft vermutlich keine Position, die häufiger mit wechselndem Personal besetzt wurde als die des Außenverteidigers. Und der neue Bundestrainer entschied sich dazu, Offensivspieler Kai Havertz dort spielen zu lassen. Der Aufschrei war im Nachgang groß. Meistens wurde von einem gescheiterten Experiment gesprochen und geschrieben. Rekord-Nationalspieler Lothar Matthäus meinte süffisant: „Ich habe gedacht, die Ausprobiererei ist vorbei nach der Entlassung von Hansi Flick. Spieler, die die Position kennen, sollten auch da spielen.“
Doch wenn man die Aussagen von Nagelsmann über Havertz zwischen den Zeilen liest, dürfte relativ schnell klar sein: Der Spieler des FC Arsenal soll kein Experiment sein, sondern ein Leistungsträger auf dieser Position im DFB-Trikot werden. „Kai hat gesagt, er will es machen, will es probieren. Ich sehe darin kein Risiko für ihn, sondern eine sehr, sehr große Chance, eine tragende Rolle bei einer Heim-EM zu spielen“, erklärte Nagelsmann. Wichtig ist, dass der Spieler selbst Lust auf die neue Rolle und die Herausforderung hat, die diese mit sich bringt.
Dem Bundestrainer wildes Experimentieren vorzuwerfen, ist falsch an dieser Stelle. Er hat das Außenverteidiger-Problem erkannt – und versucht dieses kreativ zu lösen. Anders als Flick, der sich nicht auf eine Position beschränkte, sondern das mannschaftstaktische Gesamtgerüst mit wirklich wilden Experimenten erst zum Wackeln und dann zum Einsturz brachte. Das Vorgehen von Nagelsmann sollte man honorieren und nicht kritisieren.
Hätte ein durchschnittlicher Bundesligaspieler wie David Raum den Job im Spiel gegen die Türken besser erledigt? Das darf bezweifelt werden. Übrigens: Weltmeister-Bundestrainer Joachim Löw hat sogar während der Weltmeisterschaft 2014 das eine oder andere Experiment gewagt. Philipp Lahm begann in Brasilien im Mittelfeld und beendete das Turnier als Rechtsverteidiger. Benedikt Höwedes war gelernter Innenverteidiger, wurde aber als Linksverteidiger Weltmeister.
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