Einen Vorteil bringt die Doppel-Niederlage gegen die Türkei in Berlin (2:3) und gegen Österreich in Wien (0:2) mit sich: Bundestrainer Julian Nagelsmann kann sich von sämtlichen Altlasten trennen, die ihm sein Vorgänger Hansi Flick bei der deutschen Nationalmannschaft hinterlassen hat – ohne sich dafür großartig rechtfertigen zu müssen.
Das Kapitänsamt von Ilkay Gündogan beispielsweise. Seitdem der Mittelfeldmann unter Flick zum Spielführer befördert wurde, ist das Leistungsprinzip quasi außer Kraft gesetzt. Nagelsmann konnte und wollte Gündogan mit seinem Amtsantritt nicht rasieren, er war fortan als Anführer gesetzt. Warum auch nicht? Immerhin führte der feine Techniker Manchester City als Kapitän mit seiner ruhigen, besonnenen Art im Jahr 2023 zum Champions-League-Sieg. Doch mit der Entscheidung setzte Nagelsmann das Leistungsprinzip ein Stück weit außer Kraft: Es ist wegen der Binde nun fast unmöglich, Gündogan aus der Stammformation zu streichen. Selbst, wenn seine Leistung schwach ist – wie gegen die Türkei und Österreich.
Für diese „Hierarchie“ opferte er in Wien sogar seinen einstigen Musterschüler Joshua Kimmich. Als Nagelsmann nach Abpfiff im Ernst-Happel-Stadion gefragt wurde, ob er denn „Arbeiter“ in seinem Team hätte, zählte er neben Kimmich auch Leon Goretzka, Pascal Groß, Grischa Prömel und Robert Andrich auf. Gündogan fällt da eher in die Kategorie „Zauberer“, die der Nationalcoach bei den nächsten Lehrgänge dezimieren möchte. Wer weiß, vielleicht trifft es dann auch Kapitän Gündogan – zumal Torhüter Manuel Neuer wieder zurück erwartet wird.
Allerdings muss sich der Bundestrainer auch an die eigene Nase fassen: Seine taktischen Vorgaben sind zu kompliziert für die massiv verunsicherte Mannschaft – auch wenn die Spieler das in Gesprächen mit Nagelsmann nie zugeben würden. Auch wenn man es beim DFB nicht hören möchte: Rudi Völler hat es in der Partie gegen Frankreich als Interims-Bundestrainer vorgemacht: Manchmal liegt die Kunst in der Einfachheit der Sache. Das sollte sich auch der amtierende Bundestrainer zu Herzen nehmen. Die Erwartungshaltung gegenüber der deutschen Mannschaft ist nun ohnehin geringer als je zuvor.
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