„Heute würde ich nicht mehr dopen“

von Redaktion

Nach dem Geständnis: Jan Ullrich glaubt, dass der Radsport viel sauberer geworden ist

VON GÜNTER KLEIN

München – Jan Ullrich sieht gut aus, er lacht viel. Er hat all das Schlimme hinter sich, das dazu führte, „dass ich kurz davor war, aus diesem Leben zu scheiden“. Gefangen war er im Kreislauf aus Depressionen, Whisky, Kokain. „Ohne Hilfe“, sagt der knapp 50-Jährige, „hätte ich es nicht geschafft.“ Hilfe anzunehmen, das musste er erst lernen, weil er glaubte, dass einer, der die schwerste Radrundfahrt der Welt gewonnen hat, ja alles von selbst managen muss. Nach dem Tiefpunkt seiner Exzesse vor fünf Jahren auf Mallorca setzte ein Besinnungsprozess ein: „Ich habe mich fürs Leben entschieden.“ In dem scheint Ullrich das Gleichgewicht gefunden zu haben. „Ich war ganz oben und ganz unten. In der Mitte gefällt es mir eigentlich am besten.“

In der Mitte leben heißt in Ullrichs Fall: „Den Alkohol lasse ich weg.“ Er steigt wieder aufs Rad, für die Amazon-Dokumentation „Der Gejagte“, die ab 28. November beim Streamingdienst verfügbar ist, begab er sich auf eine „Re-Tour“ durch seine Karriere. Er gibt Radsport-Camps auf Mallorca, zusammen mit Lance Armstrong, im Film ist zu sehen, dass er Bekleidung des eigenen Labels trägt. Für „geheilt“ hält Jan Ullrich sich noch nicht, „das ist ein großes Wort“, aber „gesund und clean“ würde er sich nennen. Vor allem ist er erleichtert. Darüber, dass er sich durchgerungen hat, den Satz auszusprechen, auf den alle gewartet haben: „Ja, ich habe gedopt.“ Er hat auch die Details genannt: Ab 1996 mit Epo, später per Eigenblut nach der Methode des spanischen Arztes Eufemiano Fuentes. Aus damaliger Sicht sei es „eine Entscheidung für Chancengleichheit“ gewesen. Weil (fast) alle mitmachten. „Mit dem Wissen von heute würde ich mich nicht so entscheiden“, sagt Ullrich. Doch ist der Radsport über die dunklen Zeiten hinweg?

In München, wo im Kino am Sendlinger Tor Teile der Dokumentation Premiere hatten, kam noch einmal die alte Welt zusammen. Menschen wie Ullrichs Mentor Rudy Pevenage, der so wirkt, als sei es ihm lieber, das große Schweigen der Branche wäre fortgeführt worden. Der Rückblick von Fahrerkollegen Ullrichs, die das System mittrugen, klingt bisweilen anekdotisch. Es schwingt allerdings auch Unverständnis mit wie bei Jan Ullrichs älterem Bruder Stefan, der im Team Telekom als Mechaniker arbeitete. Er argumentiert: „Italien hat Ivan Basso verziehen, Spanien Alessandro Valverde.“ Aber Deutschland habe Jan gejagt. Dabei sei es doch nur um Radfahrer gegangen, um Menschen, die für Unterhaltung sorgen. Jan Ullrich sagt heute noch: „Es ist doch nur Sport.“

Vor allem ist es immer noch ein großer Zwiespalt. Ullrich hat den Breitensport in Deutschland belebt, Lance Armstrong Krebspatienten mit seiner Erfolgsgeschichte (trotz seiner Manipulationen) Mut gemacht. „Und wegen Marco Pantani“, erzählt Jan Ullrich, „fahren die Kinder in Italien Rad.“ Er hat gegen Pantani die Tour 1998 verloren. 2004 starb Pantani infolge einer Überdosis Kokain. Ullrich besuchte die Eltern, die ein kleines Museum für ihren Sohn einrichteten, die Mutter lud er nach München zur Doku-Premiere ein, überreichte ihr Blumen. Auch sie ist eine seiner Retterinnen. „Ich wollte nicht, dass es Jan geht wie Marco“, sagt sie.

Pantani, der ein Mythos geblieben ist, Armstrong, der schonungslos realistisch mit seiner Geschichte umgeht, und Ullrich, der reinen Tisch gemacht hat – diese Figuren schweben immer noch über dem Radsport, auch wenn dieser versucht, sich von ihnen fernzuhalten und die Tour Armstrong und Ullrich nicht mehr einlädt.

„Wir erleben jetzt einen viel saubereren Radsport“, glaubt Ullrich. „Das Thema Doping ist nicht mehr flächendeckend und ein sensibles.“ Die vierteilige Dokumentation zeigt: Er war ein Kind seiner Zeit. „Der Verband“, blickt Ullrich noch einmal zurück, „war auch nicht stark genug. Das Thema Doping war intern bekannt.“

Für die jetzige Generation wünscht Jan Ullrich sich, „dass mehr auf die mentale Gesundheit geachtet wird, man die jungen Fahrer auch mal rausnimmt und ihnen mehr Zeit gibt.“ Damit keiner in der Spätfolge so krank wird, wie er es war.

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