München – So wie Alpha-Tauri-Teamchef Franz Tost (67) ging es den meisten an jenem 29. Dezember 2013, denen Michael Schumacher sehr vertraut waren. Der Tiroler kannte Schumacher schon, als er 1989 im Formel-3-Team seines Managers Willi Weber von der Formel 1 träumte, aber noch weit weg war von der Königsklasse des Automobils. Tost war Teammanager in Webers Team und eine Art Tutor für Schumacher. Er analysierte den Fahrstil des Kerpeners, ging Daten mit ihm durch und kümmerte sich auch um die entsprechende Behandlung im mentalen Bereich, denn Tost war überzeugt: „Bei allem Talent und Fahrzeugbeherrschung – Champions sind am Ende deshalb Champions, weil sie den Willen haben, sich immer wieder zu verbessern und der Willen wird vom Kopf gespeist.“ Tost weiter: „Und bei Michael war genau diese Eigenschaft extrem ausgeprägt. Dazu gehörte auch: Wenn er mal am Boden lag, stand er schnell wieder auf und kam umso stärker wieder zurück.“
Deshalb machte sich Tost auch zunächst keine großen Sorgen, als es die ersten Meldungen über einen Skiunfall von Michael Schumacher gab. „Ich dachte nur, wie groß muss die Bedeutung von Michael sein, wenn ein Sturz auf Skiern eine Meldung wert ist? Ich machte mir keine Sorgen, weil ich oft mit Michael beim Skifahren unterwegs war. Er war ein sehr guter Fahrer, der keine Risiken einging. Als mir dann die Auswirkungen des Unfalls bewusst wurde, konnte ich es gar nicht glauben. Ich war fassungslos und schockiert.“
Das Krankenhaus in Grenoble, in dem Schumacher notoperiert werden musste, wurde in wenigen Stunden von Kamerateams, Fotografen, Berichterstattern und von Fans belagert. Die Ärzte mussten eine Pressekonferenz abhalten, in der sie sagten, dass Schumacher beim Sturz mit dem Kopf auf einen Felsen aufgeschlagen war. Und deshalb eine Operation nötig gewesen wäre, um die lebensgefährliche Schwellung im Gehirn zu bekämpfen. Die OP wäre gut verlaufen, aber der Zustand des Patienten sei immer noch kritisch.
Sprecherin Sabine Kehm gab in den ersten Tagen immer wieder Neuigkeiten über den Gesundheitszustand Schumachers preis. Sie wurde dabei von unzähligen Mikrofonen umzingelt und von fast panisch agierenden Medienvertretern bedrängt, die auf der Jagd nach Schlagzeilen waren. Das Medieninteresse an Schumachers Schicksal, der auf der Intensivstation im künstlichen Koma lag, nahm absurde Züge an. Ein Journalist hatte sich sogar als Priester verkleidet, um Fotos vom Rekordweltmeister am Krankenbett zu bekommen. Bruder Ralf Schumacher erinnert sich: „Es war surreal. So was habe ich noch nie erlebt. Deshalb beschloss die Familie sehr schnell, dass Michaels Gesundheitszustand ab sofort zur Privatsache erklärt wird. Dass hat sich bis heute nicht geändert.“
Gezeigt hat der Dschungel von Kameras und Mikrofonen sogleich, welche Bedeutung Michael Schumacher nicht nur für die am Sport interessierte Gesellschaft hatte. Besonders, aber nicht nur in Deutschland. Der einfache Junge aus der Kiesgrube im rheinländischen Kerpen, der nie mehr wollte, als in dem von ihm erwählten Sport so gut wie möglich zu sein, hatte ein ganzes Land wach geküsst und eine Euphorie entfacht, die sogar den Tennisboom eines Boris Becker in den Schatten stellte. In Italien wird er wegen seiner fünf Titel mit Ferrari wie ein Heiliger verehrt. Am Tag seines Unfalls, der ein Jahr nach seinem endgültigen Rücktritt als Rennfahrer geschah, und in den zehn Jahren danach, wurde das noch mehr deutlich als zu seiner aktiven Zeit, die ihn mit sieben WM-Titeln und 91 Rennsiegen zum erfolgreichsten Rennfahrer aller Zeiten machte.
Allein: Was Lewis Hamilton, der mittlerweile Schumachers WM-Titel egalisierte oder anderen lebenden Superstars wie Jackie Stewart oder Alain Prost von Schumacher unterscheidet: Sie sind präsent und geben Interviews. Es gibt keinen Zauber um ihre Person wie zum Beispiel bei Ayrton Senna. Sein Tod in Imola 1994 hatte ihn unsterblich gemacht. Bei Schumacher ist es ähnlich. Auch wenn er lebt, er ist nicht greifbar. Als ob er vor zehn Jahren einfach verschwunden ist und seither auf einer einsamen Insel lebt, ohne Telefon, Internet und nur in Kontakt mit der Familie. Das verstärkt den Mythos Michael Schumacher.
Es bleibt reine Spekulation, was er heute – mit nun 54 Jahren – tun würde, hätte er damals den Skiunfall nicht gehabt, der ihn gerade in der Findungsphase für einen neuen Lebensabschnitt erwischt hatte. Treue Weggefährten wie Ross Brawn haben so eine Ahnung. Der Brite, der Ferrari als Cheftechniker mit ihm zusammen aus einer Sackgasse auf eine Straße des Triumphs führte und später ihn als Mercedes-Teamchef zum Comeback überredet hatte, sagt: „Ich kann mir gut vorstellen, dass Michael heute ein Team hätte. Schon bei Mercedes gab es Gespräche, ob er irgendwann mal als Anteilseigner fungieren könnte. Die erste Stufe gab es bereits: Denn er fungierte 2013 als Berater und Markenbotschafter.“
In einem ist sich Brawn im Gespräch mit unserer Zeitung sicher „Heute weiß ich, dass er womöglich zu früh den Helm an den Nagel gehängt hat. Die Saat des Erfolges bei Mercedes hat er gelegt. Er hat in den drei Jahren bis 2012 dem Team gezeigt, was nötig ist, um am Ende zu gewinnen. Fernando Alonso zeigt heute noch in ähnlichem Alter wie Michael damals, dass man auch mit weit über 40 Weltklasseleistungen bringen kann. Wäre Michael 2014 noch aktiv gewesen, er hätte den Titel holen können.“
Was bleibt: Schumacher fehlte in den vergangenen zehn Jahren. Nicht nur den Fanatikern und Fans. Franz Tost: „Ich vermisse ihn, Nicht nur als einen der besten Rennfahrer aller Zeiten, sondern besonders auch als Mensch. Mit ihm konnte man immer ganz offen reden. Er verstellte sich nie, sagte immer gerade raus, was er dachte. Politik und Intrigen gab es bei ihm nicht.“
So viel ist sicher: Der Mythos Schumacher wird weiter bestehen. Die Legende lebt. Auch wenn sich nichts ändern wird, wenn es um Neuigkeiten über seinen Gesundheitszustand geht. Dafür sorgt, für die meisten zum Glück, die Familie. Ehefrau Corinna hat den Grund des Schweigens eindrucksvoll auf den Punkt gebracht, als sie in einem äußerst seltenen Augenblick des Redens über ihren Mann bei einer Schumacher-Doku bei Netflix extrem emotional preisgab: „Früher hat Michael uns beschützt. Jetzt beschützen wir ihn.“