Düsseldorf – Juri Knorr und Martin Hanne zockten eine Runde Mario Kart, Andreas Wolff und Julian Köster lauschten den Anekdoten von Co-Trainer Erik Wudtke, Philipp Weber schmökerte entspannt in der Biografie von Prinz Harry. Auf der knapp fünfstündigen Zugfahrt nach Berlin schalteten Deutschlands Handballer in den Ruhemodus – der „Cool Down“ nach dem heißen EM-Auftakt vor der Weltrekord-Kulisse kam dem DHB-Team gerade recht.
„Die Spieler sollen die Füße hochlegen“, sagte DHB-Sportvorstand Axel Kromer am Donnerstagmorgen dem SID vor der Abfahrt am Düsseldorfer Hauptbahnhof. Während Bundestrainer Alfred Gislason sich nach einer kurzen Nacht ins Videostudium des kommenden Gegners Nordmazedonien stürzte, tankten seine Spieler in der ersten Klasse des ICE 545 neue Energie für die bevorstehende Medaillen-Jagd.
Der Traumstart vor 53.586 Zuschauern gegen die Schweiz (27:14) dürfte die Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) auf ihrem weiteren Turnierweg beflügeln. „Das war das Krankeste, was ich erlebt habe“, sagte Rune Dahmke nach dem Gala-Auftritt. Und Gislason schwärmte: „Das war eine phänomenale Werbung für unseren Sport. Ich bin extrem stolz, dabei gewesen zu sein.“
Nie zuvor sahen so viele Menschen wie am Mittwochabend ein Handballspiel unterm Hallendach, die Spieler waren überwältigt. „Ich hätte nicht gedacht, dass es mich so berühren würde. Aber es war unbeschreiblich“, sagte der bärenstarke Torhüter Wolff nach dem beispiellosen Spektakel in der Düsseldorfer Fußball-Arena.
Damit nach dem berauschenden Auftakt vor 7,6 Millionen Fernsehzuschauern nicht der große Kater folgt, richtete Gislason den Blick schnell nach vorn. Bereits ein Sieg am kommenden Sonntag (20.30 Uhr/ZDF und Dyn) gegen Nordmazedonien könnte den DHB-Männern den vorzeitigen Einzug in die Hauptrunde bescheren – eine Niederlage jedoch den Druck vor dem Vorrundenabschluss gegen Rekordweltmeister Frankreich am Dienstag massiv erhöhen. „Wir müssen bedenken: Wenn wir das nächste Spiel nicht gewinnen, können wir rausfliegen. Gegen Nordmazedonien müssen wir uns noch ein bisschen steigern“, sagte Gislason. Auch Kromer mahnte, „die Kirche im Dorf“ zu lassen. Nichtsdestotrotz war die Erleichterung im DHB-Team unübersehbar: „Wir sind froh, dass wir diese Begeisterung wecken konnten und alle vom Handball-Virus gefesselt sind.“
Verlassen, das wurde gegen die Schweiz mehr als deutlich, kann sich das DHB-Team auf Wolff. Der 2016er-Europameister spielte groß auf, kratzte Bälle aus allen Ecken seines Tores – am Ende stand eine Weltklasse-Quote von 60 Prozent. „Andi ist natürlich in so einer Form wie heute kaum zu überwinden, er war wie eine Wand da hinten“, sagte Gislason strahlend.
Nur 14 (!) Gegentreffer hatte ein deutsches Team bei einer EM noch nie kassiert. Die defensive Meisterleistung ließ nicht nur Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf der Tribüne auf ein neues „Wintermärchen“ hoffen. Dass die Youngster Knorr und Köster ebenfalls glänzend in das Turnier fanden, befeuerte die Hoffnungen ebenso wie der gewaltige Zuschauerzuspruch.
„Warum nicht den Schwung jetzt mitnehmen?“, fragte Dahmke, einer von vier verbliebenen 2016-Europameistern im deutschen Team, mit leuchtenden Augen: „Darauf kommt es an, wenn du zwei Wochen irgendwie performen musst, dass du so eine Welle erwischst und genau die versuchen wir jetzt irgendwie zu kriegen.“Der Anfang ist gemacht. sid