München – Nicht im Stadion, sondern auf der warmen Couch wird Willi Lemke (77) das Gastspiel von Werder Bremen an diesem Sonntag (15.30 Uhr) beim FC Bayern verfolgen. Vorab nahm sich der langjährige Werder-Manager Zeit für ein Gespräch über gute alte Tage – und eine Fußballwelt, die ihm nicht mehr gefällt.
Herr Lemke, die Rückrunde startet: würden Sie die Platzierungen von Bayern (2) und Werder (13) am Ende unterschreiben?
Das würde ich sofort machen, weil wir dann nicht abgestiegen wären. Und auch, weil die Bayern nicht Meister wären. Das sage ich nicht, um die Bayern zu ärgern, sondern weil es für die Spannung in der Liga überfällig ist, dass es mal einen Wechsel an der Spitze gibt und die Kinder, die konfirmiert werden, nur einen Deutschen Meister kennen. Das ist langweilig!
Der Blick auf die Tabelle sagt aber auch: Bremen hat nur 17 Punkte.
Wir sind in einer schwierigen Situation, davor verschließt niemand die Augen. Wir haben in Bochum sehr, sehr, sehr glücklich einen Punkt geholt. Das ist nicht schön, aber unsere Parole ist: Wir wollen auf keinen Fall absteigen! Dafür muss bei uns noch eine kleine Schippe drauf, aber es gibt Mannschaften, die sind noch deutlich schlechter als wir.
Wie sehr lechzt man in Bremen nach einer sorgenfreien Saison?
Die, die sich an die guten alten Zeiten unter Otto Rehhagel und Thomas Schaaf erinnern können, sehnen sich schon sehr danach, wieder mehr finanzielle Möglichkeiten und somit einen deutlich besseren Kader zu haben. Im Augenblick haben wir das nicht, damit müssen wir leben. Rumjammern nützt da nichts! Von einer Meisterschaft aber sind wir meilenweit entfernt.
Das hat auch Stuttgart lange gesagt – und jetzt stehen Sie weit oben.
Davon träumen wir! Realistisch aber ist es für uns nicht. Denn alles, was aus dem internationalen und nationalen Fußball zu hören ist, führt dazu, dass die großen Clubs weiter riesengroße Einnahmen haben werden. Der Milliardenvertrag mit der DFL ist ein Signal, die ECA-Vereinbarung über Joint Venture mit der FIFA sind das nächste, neue Wettbewerbe werden geschaffen: Das ist alles nichts, was mich als Alt-Traditions-Fußballer begeistert.
Haben Sie Angst um Werder?
Angst habe ich nicht, aber ich mache mir Sorgen um den Fußball. All das wird dazu führen, dass die ganz Starken noch stärker werden. Für den FC Bayern ist das gut – oder vielleicht auch nicht: weil es irgendwann einen Sättigungsgrad geben wird mit Blick auf unsere Liga. Schon jetzt haben ja viele den Überblick verloren, wie viele Abos sie brauchen, um alle Spiele ihres Clubs zu verfolgen – sogar mein Sohn. Der sagt: „Vaddi, die sind doch nicht ganz dicht da oben!“
Was antworten Sie?
Dass er Recht hat. Die Investoren kaufen doch diese Rechte nicht, um Geld bei der Bundesliga abzuliefern – sondern weil sie selbst an dem Geschäft teilhaben wollen. Das ist alles nicht schön, aber ich beklage es schon seit 30, 35 Jahren.
Bayern und Bremen treffen zum 114. Mal aufeinander. Früher war das Duell ein echter Schlager – was ist es heute?
(überlegt) Na ja. Wir werden alle sagen, dass wir das Spiel nicht verloren geben, sondern alles daran setzen, einen Punkt zu holen. Aber die meisten Werder-Fans werden froh sein, wenn wir keine fünf Gegentore kriegen. Wenn man hinfährt, nicht dumm auffällt und nicht katastrophal verliert, ist es schon okay. Die Macht der Bayern ist viel zu groß. Dass der Trainer anders denkt, ist klar. Und wenn eine Sensation gelingen würde, lassen wir das Becks-Bier fließen.
Bayern hat seit 28 Spielen nicht gegen Bremen verloren. Da spiegeln sich die aktuellen Rollen wider.
Wobei ich mich an so viele wunderbare Siege in München zu Rehhagels Zeiten erinnere. Auch 2004 habe ich im Kopf. Da haben wir die Bayern geschlagen und sind Deutscher Meister geworden. Danach habe ich gleich neben dem Bremer Marktplatz 17 Kölsch getrunken.
In München wären das doch nur eineinhalb Maß.
Ein Kinderschluck (lacht).
Ihre schönste Erinnerung?
Es gehört zu den Top-3. Aber ich denke auch gerne an mein letztes Spiel in verantwortlicher Position. Das Pokalfinale 1999, entschieden durch den verschossenen Elfmeter von Stefan Effenberg. Das war ein Triumph, den ich nie vergesse. Wir waren fast Abstiegskandidat in der Saison.
Ruhen alle Hoffnungen für mehr Spannung auf Leverkusen?
Zumindest große. Man hat jetzt in Augsburg gesehen, dass sie sich auch das Glück erarbeitet haben – und das ist wichtig im Meisterkampf. Ich bin Leverkusen freundschaftlich verbunden, weil ich es Rudi Völler, der sein Herz jetzt im Westen hat, so gönnen würde. Wir haben ihn damals verpflichtet von 1860, wir sind eng verbunden. Ein großartiger Mensch mit einer wahnsinnigen Karriere. Vielleicht hat er nicht ganz so genial gespielt wie Franz Beckenbauer. Aber wenn er so weitermacht, ist er auf einem guten Weg, sich auch so ein Fußball-Denkmal zu setzen. Entschuldige, Uli Hoeneß! Aber so weit reicht meine Liebe doch nicht, dass ich dem FC Bayern alle Titel in den nächsten 50 Jahren gönne.
Elf Jahre sind es schon. Apropos: Thomas Müller hat noch nie gegen Werder verloren.
Ehrlich? Viel Zeit, ihn zu schlagen, hat Werder ja nicht mehr (lacht). Spaß beiseite: Ich finde, Müller ist ein großartiger Typ. Einer, den es heute nicht mehr oft gibt.
Wie Sie und Hoeneß: vereinstreu, loyal. Geht das im modernen Fußball nach und nach verloren?
Natürlich. Das Getue, das Theater heutzutage, das Spieler machen, wenn sie neu bei einem Verein sind, kann ich kaum ertragen. Die haben null mit dem Club zu tun – und küssen das Wappen. Die freuen sich über einen fetten Vertrag und denken: Hoffentlich bin ich so gut, dass ich schnell weiterziehen und mehr verdienen kann. Wir müssen es doch hinkriegen, dass wir Mannschaften haben, die ein Team bilden – und nicht nur ein Haufen von Ich-AGs.
Wie sehen Sie die Personalie Max Eberl unter dem Gesichtspunkt der Loyalität? Aus Leipzig wird ihm da ein Vorwurf gemacht.
Das möchte ich nicht bewerten. Aber ich kenne ihn seit langen Jahren, für mich ist Max Eberl eine der profiliertesten Persönlichkeiten auf dem Managermarkt in Deutschland. Bayern hat sich da einen sehr, sehr guten Mann rausgesucht. Max Eberl ist eine typische Hoeneß-Personalie. Da kann ich nur sagen: Uli, wieder mal vernünftig entschieden!
Wie regelmäßig ist Ihr Austausch mit Uli Hoeneß?
Im Augenblick ruht es ein bisschen. Aber ich weiß, dass ich mich auf Uli verlassen kann. Als ich neulich einen Kartenwunsch für ein Bayern-Spiel hatte, habe ich unmittelbar eine Antwort erhalten. Bei uns ist alles in Ordnung- Gott sei Dank!
Wie denken Sie heute über die früheren Zeiten, die Fehden, die Duelle?
Ich kann darüber schmunzeln. Noch heute aber werde ich von älteren Herrschaften auf meine Beziehung zu Hoeneß angesprochen. Da heißt es dann gerne: „Ich habe es geliebt! Es war großartig, wie Sie Kontra gegeben haben!“ Damals hat das die Fans bewegt, weil es unterhaltsam war. Aber durch das Telefonat, das wir in einer für ihn sehr schweren Zeit geführt haben, haben wir ja inzwischen eine sehr gute Beziehung. Wenn man so alt ist wie ich, will man nicht mit so einer Privatfehde abtreten. Er hat den ersten Schritt gemacht, ich den zweiten – und jetzt hätte ich kein Problem, auch mal nach München ins Stadion zu gehen. Aber ich bin kein Masochist (lacht).
Bei der Gedenkfeier zu Ehren von Franz Beckenbauer fehlten Sie. Warum?
Ich habe das leider nur aus den Medien erfahren. Wenn jemand ein Interesse daran gehabt hätte, dass ich komme, hätte man mich informiert. Das wird so eine Riesenveranstaltung, da will ich mich sicher nicht aufdrängen. Wie sehr ich Franz schätze, kann ich ja auch so sagen.
Gerne!
Ein genialer Fußballer, aber auch ein großartiger Kerl, den ich unheimlich gemocht habe. Heute bin ich sauer auf mich selber, dass ich nicht irgendwann in den letzten Jahren gesagt habe: Franz, darf ich Dich nochmal besuchen kommen? Ich habe viel an ihn gedacht. Auch daran, wie ich ein Mal einen Korb von seinem Manager Robert Schwan bekommen habe.
Warum?
Ich hatte Franz einen Werbe-Job von einer Bremer Firma angeboten, aber die 300.000 D-Mark haben bei Schwan nur für Lachen gesorgt. Ich habe damals als Jung-Manager von 300 000 D-Mark Jahresgehalt geträumt und konnte nicht glauben, dass Beckenbauer auf so eine Summe verzichtet. Aber er konnte es sich halt leisten.
Interview: Hanna Raif