München – Dieser Song, der am Dienstagabend keine Minute nach Abpfiff des Pokal-Viertelfinals von den Rängen der BayArena schallte, stand in gewisser Weise sinnbildlich für all die Eventualitäten, die in und um Xabi Alonso gerade gesponnen werden. Die Melodie: ein Beatles-Klassiker, „Yellow Submarine“, also aus Liverpool. Der Text: „Zieht den Bayern die Lederhosen aus!“, also mit München-Bezug.
Was Alonso zu diesen Gedanken sagen würde, ist klar: Der 42-Jährige lebt im Hier und Jetzt, und das Hier und Jetzt ist fast zu schön, um wahr zu sein. Tabellenführung in der Bundesliga, Halbfinale im DFB-Pokal, K.o.-Runde in der Europa League: Theoretisch ist für Leverkusen sogar noch ein Triple drin. Das soll man sich mal vorstellen! Drei Titel bei einem Verein, der seit dem Pokalsieg 1993 oft nah dran war, aber nie einen Pokal in den Händen gehalten hat. Triple- statt Vize-Kusen, Alonso als ewiger Held. Die Frage, die sich schon jetzt stellt, wäre dann noch akuter: Was soll danach kommen?
Auf dem Papier wird sie mit einer bloßen Zahl beantwortet. 2026 steht auf dem Vertrag, den Alonso 2022 unterzeichnet und 2023 verlängert hat. Längst wird aber viel mehr über den Zusatz gesprochen, der nicht unter „Kleingedrucktes“ fällt. So soll ein vorzeitiger Abgang möglich sein, wenn einer von Alonsos Ex-Clubs – also Real Madrid, der FC Liverpool oder der FC Bayern – anklopft. Unbestritten ist, dass nach wie vor Liverpool einen Trainer sucht und Thomas Tuchel in München unter Beobachtung steht. Und sowieso: dass Alonso Begehrlichkeiten weckt.
So war es zu erwarten von einem Mann, den etwa Karl-Heinz Rummenigge bei seinem Abschied vom FC Bayern als „einen ganz Großen des Weltfußballs, eine herausragende Persönlichkeit, einen Gentlemen des Fußballs“ bezeichnete. Aber das Tempo der Entwicklung ist doch sehr rasant. Kein Jahr hat es gedauert, ehe von einem Krisen-Club auf Platz 17 ein Meisterfavorit geworden ist, der nun den Branchenprimus gleich doppelt entblößen kann. Gewinnt Leverkusen, sind es fünf Punkte Vorsprung auf Bayern. Alonso habe als aktiver Fußballer „schon so gespielt, dass man nicht extrem viel Fantasie brauchte, um sich vorzustellen, dass er auch ein Top-Trainer sein kann“, sagte Tuchel am Freitag. „Jetzt hat er sich dem Ganzen mit der gleichen Hingabe verschrieben.“ Und nicht nur Alonso – von 2014 bis 2017 im roten Trikot – weiß, was eine drohende titellose Saison an der Säbener Straße für Mechanismen auslösten kann. Auch er selbst wird dann Thema werden.
Schon im vergangenen Jahr spielte der Welt- und Europameister Schicksal, Julian Nagelsmann musste nach einer Pleite in Leverkusen seinen (Ski-)Koffer packen. So schnell wird es bei Tuchel nicht gehen – warum auch? 50 Punkte nach 20 Spielen sind die beste Liga-Ausbeute seit acht Jahren, 2016 (mit Alonso!) waren es 53. Und trotzdem ist die erste echte Spielzeit des 50-Jährigen in München von Unruhe, Querelen und Nebenkriegsschauplätzen geprägt. Intern gibt es genug kritische Beobachter, auch das Fanlager ist gespalten. Als Tuchel zuletzt davon sprach, „in England mehr Wertschätzung gespürt“ zu haben, war das durchaus plausibel. In Deutschland werden gerne Stempel vergeben – und da ist Tuchel halt Tuchel und nicht: Alonso. Ist das fair?
„Der Trainer-Job funktioniert nicht unter dem Motto ,kopieren und einfügen’. Du musst eigene Ideen entwickeln“, sagt Alonso. Als Profi im Mittelfeld Weltklasse, will an der Seitenlinie tun, was er früher im Zentrum des Spiels tat: „Kontrollieren und verstehen.“ Er ist dabei lernwillig, nicht stur, zuletzt ließ er sich trotz drohender Gelbsperre von Granit Xhaka zu einem Einsatz überreden. Und er verfällt nicht in Panik. Als es in der Halbzeit des Pokal-Viertelfinals gegen Stuttgart 0:1 stand, sagte er seinem Team: Nicht mit dem Kopf durch die Wand! Endstand: 3:2.
Um sich in den Kopf des gebürtigen Basken einzudenken, passt eine Anekdote aus seinen Anfangszeiten in München. Denn da gab es einen deutschen Ausdruck, der Alonso nachhaltig beeindruckt hat: „Flüssigkeitshaushalt ausgleichen“. Er konnte nicht glauben, dass man so viele Worte vereint, um etwas Simples auszudrücken. Aber er wusste schnell: „Das ist hier ein Teil der Sprache und der Kultur.“ Den Song „Zieht den Bayern die Lederhosen aus“, kannte er damals übrigens noch nicht. Und er wollte ihn auch nicht kennenlernen: „Wir müssen einfach immer gewinnen.“ Heute, auf der anderen Seite, sieht er das anders.
HANNA RAIF