Tuchels Titel-K.o.

von Redaktion

Fünf Punkte Rückstand, viele Fragen – aber Rückendeckung für Bayern-Coach

VON VINZENT TSCHIRPKE

Leverkusen – Von der Meisterschaft wollte Christoph Freund (46) nicht mehr sprechen. Mit finsterer Miene stellte sich der Sportdirektor nach dem 0:3 (0:1)-Debakel in Leverkusen vor die Mikrofone. Auf Nachfrage, wie viel Hoffnung bestehe, den Fünf-Punkte-Rückstand auf Bayer noch aufzuholen, zog der Österreicher das bittere wie treffende Fazit: „Das ist jetzt nicht aktuell das Thema. Wir haben es nicht mehr in der eigenen Hand, das ist Fakt.“ Fakt ist aber auch: „Wir müssen auf uns schauen, dass wir besser Fußball spielen.“

Guten Fußball hätte der Rekordmeister schon am Samstagabend gebraucht, stattdessen gab es im Topspiel eine unterirdische Leistung. Bereits vor Anpfiff verwunderte Thomas Tuchel (50) mit einer ungewohnten Aufstellung. Zum ersten Mal in dieser Spielzeit schickte der Trainer eine Fünferkette auf den Platz – das Taktik-Experiment misslang jedoch komplett. In Sacha Boey (23) ließ Tuchel einen Rechtsverteidiger auf der linken Abwehrseite auflaufen. Der schnelle Neuzugang sollte das Tempo vom etatmäßigen Bayer-Rechtsverteidiger Jeremie Frimpong (23) ausgleichen. Das Problem: Frimpong spielte gar nicht, wurde von Xabi Alonso (42) durch FCB-Leihgabe Josip Stanisic (23) ersetzt. Und eben jener Stanisic traf in der 18. Minute im Rücken vom völlig überforderten Boey zur 1:0-Führung.

Wie viel Schuld der Trainer am Bayern-Debakel hat, war die Frage nach Abpfiff. Das 0:1 nehme er „auf unsere Kappe“, sagte Tuchel – einen Vorwurf mache er sich aber nicht: „Die Entscheidung war reiflich überlegt. Ich würde es wieder so machen!“ Tatsächlich merkte man allen fünf Verteidigern an, dass sie in ihrer ungewohnten Rolle orientierungslos und überfordert waren. Sowohl Eric Dier (30) im Zentrum als auch Dayot Upamecano (25) und Minjae Kim (27) auf den Halbpositionen hatten Probleme, sich in den neuen Abständen zu verständigen. Und auch Noussair Mazraoui (26) schaffte es nicht, als rechter Schienenspieler die Balance zwischen Angriff und Abwehr zu halten.

Vor allem aber irritierte an der Aufstellung des Rekordmeisters, dass Tuchel sich offenbar mehr an Bayer als an den eigenen Stärken orientiert hatte – und durch Alonsos Umstellung auf eine Viererkette ausgetrickst wurde. Kapitän Manuel Neuer (37) gestand nach Abpfiff: „Natürlich haben wir die Leverkusener so nicht erwartet von der Aufstellung. Wir haben schon mit anderem Personal gerechnet.“ Und selbst Bayers Jonathan Tah (28) gab zu, sich über Tuchels Taktik-Anpassung gewundert zu haben: „Es war ein schönes Gefühl, als wir die Bayern-Aufstellung gesehen haben, zu sehen, was für einen Respekt sie vor uns haben.“

Immerhin: Nach der Pleite stellten sich die Bayern-Bosse öffentlich hinter den Coach. Jan-Christian Dreesen (56) sagte zur Frage, ob Tuchel jetzt wackelt: „Nein, da ändert sich gar nichts.“ Auch Freund nahm Tuchel in Schutz: „Wir sind alle zusammen ein Team und haben es heute nicht hingebracht.“ Auf die interne Bewertung der verzwickten Sachlage hat nun auch die Reise nach Rom einen entscheidenden Einfluss. Sollten die Bayern im Achtelfinal-Hinspiel bei Lazio (21.00 Uhr, DAZN) patzen, wird die Luft dünner.

Schon jetzt weiß man: Einen so großen Abstand zum Tabellenführer zu einem so späten Zeitpunkt hatte der FC Bayern in den letzten elf Jahren nur 2018/19, damals holten die Münchner den Fünf-Punkte-Rückstand noch auf. Auf eine ähnliche Entwicklung und Leverkusener Patzer muss Tuchel nun hoffen. Dreesen: „Wir geben nicht auf.“

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