Ob sich Steffen Baumgart die Tabelle(n) genau angeschaut hat, bevor er gestern dem HSV sein Ja-Wort gab? Für den Kulttrainer mit der Schiebermütze ist es eine ziemlich heikle Konstellation, auf die er mit seinem neuen Club zusteuert. Der HSV als Dritter der 2. Liga steht wie der 1. FC Köln als Drittletzter der 1. Liga sportlich auf der Kippe. Relegationsduelle mit seinem Ex-Club sind kein unrealistisches Szenario. Für Baumgart wäre es ein Dilemma, denn sein Abschied aus Köln war gepflastert von vielen Emotionen – und noch mehr Tränen.
Natürlich geht Baumgart davon aus, dass er die Relegationsfolter vermeiden kann – und den HSV (aktuell 38 Punkte) auf direktem Wege zurück in die Bundesliga führt. Leicht wird das nicht, denn im Stadtrivalen St. Pauli (45) und dem Nordrivalen Kiel (42) sind zwei Mitbewerber ein Stück weit enteilt – und von hinten drängt Hannover 96 (37), das ungeachtet der Querelen um Clubchef Martin Kind die Rückrundentabelle anführt.
Wie schwer es ist, den ehemaligen Bundesliga-Dino zurück in seine alten Jagdgründe zu führen, musste seit 2021 Vorgänger Tim Walter erfahren. Höchste Erwartungen paaren sich beim HSV mit einer Summe von Enttäuschungen, die wie bei jedem Traditionsclub von einer Armada aus Ehemaligen, Experten, Gurus und Gönnern kommentiert werden. Walter ist am Ende mit seiner stoisch-streitbaren Art an Grenzen gestoßen. Baumgart dürfte wissen, dass beim Stolz der Hansestadt alle genug von dritten und vierten Plätzen haben. Es spricht für sein Selbstbewusstsein, dass er sich die knifflige Mission zutraut. Natürlich weiß er aber auch, dass er einiges mitbringt, das ihn für solche Aufgaben befähigt. Baumgart-Teams sind Abbilder seiner selbst, spielen offensiv, mutig und mitreißend. Nur Klopp steht für noch mehr Emotionen – was den einstigen Stürmer in Paderborn wie in Köln zu einem Liebling der Fankurven gemacht hat.
Der Mecklenburger Baumgart, schon als Spieler ein bekennendes Nordlicht (u.a. Rostock, Union, Wolfsburg, Cottbus), beteuert, sich mit seinem Engagement beim HSV einen Kindheitstraum zu erfüllen. „Du wechselst öfter die Frau als den Verein“, sagte er: „Deswegen freue ich mich wirklich hier zu sein.“ Ein heißblütiger Trainer bei den nur dem Klischee nach kühlen Hanseaten – könnte passen. Als Aufsteiger mit Paderborn und Überlebenskünstler mit Köln kennt er sich praktischerweise bestens aus im Grenzbereich zwischen den Ligen.
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