Frankfurt – Bundestrainer Julian Nagelsmann setzt gerne modernste Technik ein, um seinen Mannschaften Trainingsinhalte gezielt zu vermitteln. Als Coach des FC Bayern sorgte er dafür, dass eine große Video-Leinwand an der Säbener Straße installiert wurde. Bei RB Leipzig ließ der Fußballlehrer einen Beobachtungsturm errichten. Das Ziel dieser „Baumaßnahmen“: Den Spielern bei der Video-Analyse Szenen gleich am Platz zeigen zu können.
Der 36-Jährige ist aber nicht nur ein Technik-, sondern auch ein Statistik-Freak, wie er bei der Zusammenstellung des DFB-Kaders für den letzten Lehrgang vor der Heim-Europameisterschaft in diesem Sommer durchblicken ließ. Denn für die anstehenden Länderspiele gegen Frankreich am Samstag (21 Uhr, ZDF) und die Niederlande nächsten Dienstag (21 Uhr, RTL) setzt der Nationalcoach auf Zahlen statt Bauchgefühl. Einige DFB-Kicker erhielten ihre Einladung auch wegen ihrer herausragenden statistischen Werte.
Über Rückkehrer Toni Kroos sagte Nagelsmann beispielsweise: „Er ist aktuell in Europa mit Abstand der Spieler mit den meisten überspielten Gegnern. Es gibt ja diesen Ausdruck Querpass-Toni… Wer das heute immer noch schreibt, hat leider gar keine Ahnung von Fußball.“
Das beweist in der Tat ein Blick in die Statistik: Die Leistungsdaten des Mittelfeldspielers sind absolute Weltklasse. 95 Prozent aller Pässe des Mittelfeld-Regisseurs von Real Madrid finden ihren Mitspieler, bei langen Bällen sind es starke 85 Prozent. Gerade die weiten Zuspiele könnten für die Nagelsmann-Elf wichtig werden: Schließlich lässt sich mit einer Seitenverlagerung die Defensive von tief stehenden Gegnern auseinanderziehen, auf ähnliche Weise erzielt Leverkusen einen Großteil seiner Tore. Kroos’ Passgenauigkeit könnte dabei zum Trumpf werden: Kein Akteur hat europaweit mehr lange Bälle an den Mann gebracht, außerdem ist er in den Top-zwei-Prozent der Spieler mit den meisten Ballkontakten.
Der 34-Jährige verliert so gut wie nie den Ball, diese Sicherheit soll auch im Nationaltrikot für Spielkontrolle sorgen. Schließlich kassierte Deutschland zuletzt viele Tore nach Ballverlusten – die Ruhe und Übersicht von Kroos macht gegnerisches Pressing quasi unmöglich.
Während sich das Kroos-Comeback andeutete, war die Nominierung von Heidenheim-Senkrechtstarter Jan-Niklas Beste die große Überraschung. Auch hier hatte das Zahlenwerk des 25-Jährigen einen entscheidenden Anteil. Der linke Flügelspieler spielt eine starke Saison, und das lässt sich mit Statistiken belegen: Sieben Tore und acht Assists sammelte Beste in 23 Partien, ist also in mehr als jedem zweiten Spiel direkt an einem Treffer beteiligt – und das bei einem defensiv eingestellten Aufsteiger.
Im Kreieren von Chancen ist der Linksfuß unter den besten zwei Prozent (!) aller Flügelspieler in Europas Top-5-Ligen. Beste ist extrem kreativ und bringt seine Mitspieler mit Dribblings und Flanken in gefährliche Situationen. Kein Wunder also, dass Nagelsmann diese Qualitäten für sich nutzen möchte: In Heidenheim werden die kreierten Chancen vergleichsweise schwach verwertet, mit besseren Abschluss-Spielern wie Niclas Füllkrug an seiner Seite dürften Bestes Torbeteiligungen weiter steigen.
Bleibt die Frage: Helfen diese Zahlen, bei der erhofften Leistungsexplosion im Hinblick auf die EM– oder liegen Theorie und Praxis zu weit auseinander? Darauf muss Bundestrainer Nagelsmann in den nächsten zehn Tagen die passende Antwort finden.