Sagt, was er denkt: „Wunschkandidat“ Tuchel. © IMAGO
München – Der Tiefpunkt war erreicht, als es eigentlich schon egal war. Gerade drei Wochen ist es her, da sagte Thomas Tuchel als Konter auf die öffentliche Kritik, die ihn seitens Uli Hoeneß erreicht hatte: „Wenn ich das jetzt auch noch runterschlucken muss, schlucke ich das auch noch runter.“ Man hörte und sah in den Worten und aus dem Gesicht des 50-Jährigen eine Mischung aus Wut, Ungläubigkeit und Resignation, frei übersetzt: Haut ruhig auf mich ein – ich bin ja eh bald weg! So denkt man, wenn einen in 15 Monaten Amtszeit Vorwurf über Vorwurf erreicht. Für beide Seiten stellt sich die Frage: Könnte man sie im Fall der Fälle einfach vergessen?
Die Formulierung „zu viel passiert“ ist in den vergangenen Wochen oft bemüht worden, wenn man sich in den Führungskreisen des Rekordmeisters über eine mögliche Rolle rückwärts in der Causa Tuchel erkundigt hat, genau wie das Wort „ausgeschlossen“. Erst im Laufe der Woche, rund um die Aufsichtsratssitzung am Montagabend, wurden die kritischen Stimmen von Pro-Tuchel-Aktivisten übertönt. Es wurde so lange abgewogen und der Mangel an Alternativen aufgezeigt, dass man sich schwer vorstellen kann, dass sich noch ein Boss einem „Ja“ von Tuchel entgegenstellen würde. Will der als nicht passend abgestempelte Trainer weitermachen, darf er. Konfliktpotenzial aber gäbe es auch im zweiten Vertragsjahr genug, denn: Tuchel würde Tuchel bleiben. Und die Bayern-Bosse die Bayern-Bosse.
Wie sehr man aneinander vorbei reden kann, hat die finale Hoeneß-Tuchel-Pointe rund um das Champions-League-Halbfinale gegen Real Madrid gezeigt. Konkret hatte der Ehrenpräsident dem Trainer vorgeworfen, die Jugendförderung zugunsten seiner Einkaufsstrategie zu vernachlässigen. Tuchel reagierte aus gutem Grund ungehalten und konterte sogar aktiv auf dem Platz. In Aleksandar Pavlovic und Lovro Zvonarek stellte er im Spiel gegen Frankfurt eine Doppelsechs auf, die exakt 19.5 Jahre alt war. Das Motto „Jugend forscht“ zog er auch am Wochenende gegen Wolfsburg durch. Tendenz: Vorwurf entkräftet, Thema aber mit Sicherheit noch nicht beigelegt.
Es wird, sollte es weitergehen, klärende Gespräche mit allen Beteiligten geben müssen. Denn dass ein „Weiter so“ nicht möglich ist, hat sich bereits im vergangenen Herbst angedeutet. Damals wurde Tuchel vor allem für sein eingefordertes Mitspracherecht in Transferfragen kritisiert, konkret ging es um eine „Holding Six“ (Hoeneß: „Flying six“). Weil er keine bekam, stellte Tuchel die fehlende Breite im Kader in Dauerschleife heraus; intern sagte man, er schaffe sich dadurch ein Alibi. Auch die Sprunghaftigkeit in der Kaderplanung gefiel den Chefs nicht. Beides Punkte, die auch die gemeinsame Planung eines neuen Kaders betreffen würden.
Dass die Saison womöglich nicht titellos hätte enden müssen, wäre im vergangenen Sommer besser eingekauft worden, flüstert man inzwischen auch in der oberen Etage an der Säbener Straße. Man sagt aber auch, dass etwas mehr Selbstreflexion von Tuchel geholfen hätte, die schweren Phasen der Spielzeit besser zu überstehen. Der „Vorwärtsgang“ fehlte einigen Verantwortungsträgern immer wieder, wenn gemeinsam mit dem Coach nach Lösungen gesucht wurde. Dazu passt, dass Tuchel auch öffentlich im Dress des FC Bayern selten mit Kritik an der eigenen Mannschaft sparte. Schonungslose Offenheit ist in diesem Geschäft eine Seltenheit und keine schlechte Tugend. Trotzdem hat man dem Trainer nicht nur einmal mangelnde Empathie vorgeworfen, wenn es um einzelne Spieler ging. Das jüngste Beispiel: Die Kritik an Minjae Kim, der beim 2:2 im Hinspiel gegen Real gleich zwei Mal schlecht aussah.
Überhaupt hat er Umgang mit den Stars immer wieder für Irritationen gesorgt. Zwar ist man sich auch intern einig, dass die Zeit der „Kuschelatmosphäre“ in diesem Club vorbei sein soll, trotzdem kamen Tuchels Äußerungen nicht immer gut an. Von „Unberechenbarkeit“ wird gerne gesprochen – und dazu Fallbeispiele wie unter anderem jenes von Joshua Kimmich aufgezeigt, dem Tuchel schon im Herbst als Sechser degradierte. Auch Leon Goretzka hatte harte Phasen, Matthijs de Ligt war unglücklich, Thomas Müller irgendwann Bankdrücker. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Tuchel stets das große Ganze im Blick hatte und nicht mit allen Einschätzungen daneben lag. Nur: reicht das, um plötzlich die Wunschlösung zu sein? H. RAIF, P. KESSLER, M. BONKE