Berlin – Der Bundestrainer hatte sich für die Bekanntgabe seines vorläufigen Kaders für die Europameisterschaft in Schale geworfen: Im dunkelblauen Nadelstreifen-Anzug betrat Julian Nagelsmann am Donnerstagmittag die Räumlichkeiten der Eventlocation „Drive“ von Hauptsponsor Volkswagen, um die letzten Geheimnisse seiner Mannschaftszusammenstellung für das anstehende Heim-Turnier zu lüften. In launigen Video-Sequenzen wurde das DFB-Aufgebot von Influencern, Prominenten oder Vertretern ganz normaler Berufszweige benannt, zum Schluss sprach Nagelsmann in die Kamera: „Das ist ein sehr guter Kader. Könnte von mir kommen. Ist aber unser Kader!“ Die Kampagne hatte das Land in den vergangenen Tagen beschäftigt und kaum Fragen offen gelassen.
Auf größere Überraschungen verzichtete Nagelsmann in seinem Aufgebot. Gemeinsam mit seinem Trainerteam hatte der Nationalcoach bereits nach den Testspiel-Pleiten Im vergangenen November gegen die Türkei und Österreich seine Lehren gezogen und den Kader im Rahmen der März-Länderspiele gegen Frankreich und die Niederlande entsprechend verändert. „Wir haben schon vor dem Frankreich-Spiel Feedback eingeholt. Natürlich im Trainerteam, aber auch dann viel bei den Köchen, bei den Physiotherapeuten. Einfach bei Menschen, die jeden Tag viel mit den Spielern zu tun haben, aber jetzt nicht immer das rein Sportliche bewerten. Wie ist das Klima, wie ist das Miteinander? Da war das Feedback im März sehr klar, dass es die beste Maßnahme der letzten Jahre war.“
Was entstanden ist rund um die überzeugenden Testspiele in Frankreich und gegen die Niederlande, nennt Nagelsmann „noch fragil, weil es sehr jung ist“. Doch er will das Gebilde wachsen lassen, ihm die Chance zur Blüte geben. Das sei der Grund, warum er die Gruppe keinen neuen Einflüssen von außen aussetzen will. Daher fehlen Mats Hummels, Leon Goretzka, Robin Gosens, Julian Brandt, die alle eine Historie in der Nationalmannschaft aufzuweisen haben. Die Absagegespräche mit den Spielern, „die ich in meiner Amtszeit mal nominiert habe“, führte er persönlich, nachdem er aufgelegt hatte, sah Nagelsmann auf seinem Smartphone, wie lange die Gespräche gedauert hatten: „Von 1:11 bis 22:30 Minuten.“
Eine weitere Unterhaltung dieser Art steht dem Bundestrainer noch bevor. Denn statt der von der UEFA erlaubten 26 Spieler hat er 27 nominiert. Treffen wird es einen Feldspieler, „die Wackelkandidaten sind informiert“. Hingegen wird er mit vier Torhütern in die Trainingslager in Weimar und Herzogenaurach einrücken. Sei für ihn trainingstechnisch besser, so müssten sich Manuel Neuer und Marc-Andre ter Stegen nicht zum Ende jedes Trainings der Strapaze unterziehen, „dass 20 Spieler 400 Schüsse abfeuern.“ Einen Teil dieser Belastung sollen Oliver Baumann und Neuling Alexander Nübel auf sich nehmen.
Die Aufbruchstimmung aus dem Frühjahr soll sich beim Turnier im eigenen Land fortsetzen – und dafür ist in den Augen des Bundestrainers ein homogenes Mannschaftsgefüge entscheidend: „Im März haben wir mit jedem Spieler über dessen Rolle gesprochen. Wenn jetzt im Trainingslager in Weimar jemand meint, er will diese Rolle nicht mehr erfüllen, dann haben wir da einen guten Bahnhof. Wir haben einen guten Mix aus sehr starken Charakteren.“ Die Zielsetzung ist für Nagelsmann klar: „Wenn wir ein Turnier spielen, dann sollte man auch das Ziel haben, es zu gewinnen.“ Eine besondere Bedeutung misst er dem Auftaktspiel am 14. Juni gegen Schottland bei. Sollte das erfolgreich enden, dann könne es weit gehen: „Ich habe schon das Gefühl, dass wir das Ding gewinnen können..“
Der Bundestrainer führt aus: „Ich will von meiner Mannschaft unterhalten werden. Wenn es dazu kommt, dass wir ein, zwei Tore mehr schießen als der Gegner, ist es noch besser. Wir versuchen, den Titel zu gewinnen, das kann ich versprechen. Aber es kann auch passieren, dass wir in der K.o.-Phase ausscheiden und es war trotzdem ein gutes Turnier. Ich verstehe den Fußball schon als Unterhaltungsbranche.“ Das entsprechende Personal hierfür glaubt Nagelsmann nun gefunden zu haben. Und die Einstimmung mit den Nominierungen hat er ja auch als launig und sinnstiftend empfunden: „Ich habe das Gefühl, dass wir als komplettes Land positiver eingestellt sind.“