Und sie glänzten doch: Die Trikots der Leoparden (hier im Spiel gegen Brasilien) galten als ikonisch. Hätte es doch damals schon Fan-Replicas gegeben… © imago
Mehr Tore, als auf die Anzeigetafel passten: Zeugnis von Zaires Niederlage. © imago
Kettenraucher auf der Bank: Zaires Coach Vidinic. © imago
Trügerisches Idyll: Im Hotel Jagdschlösschen wurde hart verhandelt. © imago
Grausamer Herrscher: Präsident Mobutu. © imago
Am zweiten Spieltag der Vorrundengruppe II stand die Fußball-Weltmeisterschaft vor der Katastrophe: dem Ausfall eines Spiels, weil eine Mannschaft nicht anzutreten drohte.
Es war durchgesickert, dass es im Kader von Zaire eine Abstimmung gegeben hatte über einen Boykott der Partie gegen Jugoslawien. In der Kabine im Gelsenkirchener Parkstadion fanden sich zunächst nur neun Spieler ein, die anderen wandelten unschlüssig durch die Katakomben. Die deutschen WM-Organisatoren handelten: Sie zahlten jedem Spieler 3000 D-Mark, nach damaligem Kurs gut 500 US-Dollar.
Zaire spielte schließlich – aber schrecklich. 0:9 verloren die „Leoparden“. Der 18. Juni 1974 war der Tag, der Träume. Leben, Karrieren zerstörte und bis heute nachwirkt. Im vergangenen Jahr ist auf Englisch ein Buch erschienen, das die Geschichte nachzeichnet: „Zaire ’74: The Rise and Fall of Mobutu’s Leopards“ von Neil Andrews, Aufstieg und Fall eines Teams, mit verursacht von einem Politiker, der den Fußball für seine Zwecke missbrauchte.
Zaire – den Namen gibt es heute nicht mehr. Das Land heißt nun Demokratische Republik Kongo, ursprünglich war es bekannt als Belgisch-Kongo und Congo-Kinshasa. 22 Millionen Menschen lebten dort, 1400 Meilen waren es vom einen Ende zum anderen. Joseph-Désiré Mobutu wird mit der Unabhängigkeit 1960 Militärchef, sein Weg führt ihn an die Spitze des jungen Staats, er wird sein Präsident, er nennt ihn Zaire, den „Fluss, der alle Flüsse verschlingt“. Das Land bekommt eine neue Flagge, neue Hymne, die Menschen sollen einander nicht mehr als Madame und Monsieur grüßen, sondern als Bürger und ihre christlichen Namen in afrikanische umwandeln. Joseph-Désiré Mobutu ist nun Sese Seko Mobutu – und er erkennt die Macht des Fußballs. „So wichtig wie die Wirtschaft“, sagt er.
Villa, Auto, Reise – nach Siegen versprach der Präsident den Spielern Reichtum
Vor seiner Zeit hatte es Werksvereine gegeben. Von den Betreibern der Minen, von Zementfabriken, Zuckerplantagen. Die Besten spielten in Belgien. Mobutu beorderte sie zurück, zahlte Ablöse an ihre europäischen Clubs, begrüßte die Stars bei ihrer Rückkehr am Flughafen. Besondere Aufmerksamkeit galt dem Nationalteam. Hochkarätige Testspielgegner kamen ins Land, sogar der FC Santos mit Weltstar Pelé. Und nicht nur einmal.
1966 boykottierten die afrikanischen Länder noch die WM, weil ihnen die FIFA keinen fixen Startplatz gab. Für 1970 wurde er ihnen zugesagt, doch Zaire versäumte es aufgrund einer Verwaltungsfehlers, sich für die Qualifikation anzumelden. Für 1974 jedoch gelang das – und im März des WM-Jahres gewannen Mobutus Leoparden auch noch den Afrika-Cup in Ägypten.
Mobutu zeigt sein ganzes Repertoire an Führung. Er ruft nach glorreichen Siegen nationale Feiertage aus, die Mannschaft lädt er nach vollbrachter WM-Qualifikation auf sein Boot auf dem Zaire River ein. Mayanga Maku, einer der damaligen Spieler, erinnert sich im Buch von Neil Andrews: „Er versprach jedem von uns eine Villa, ein Auto und eine Reise mit der Familie, wohin wir wollen.“ Doch als ein paar Monate später der Start in den Afrika-Cup misslingt, droht Mobutu allen Beteiligten mit „lebenslang Gefängnis“. Das Team biegt das Turnier hin – und der Diktator ist wieder der größte Fan, der die Spieler in seinen Palast mit weißem Marmor einlädt und zwei Wochen Urlaub im Luxusressort spendiert. Mobutu sagt: „Gelbe Trikots auf weißer Haut – ihr werdet aussehen wie elf Pelés.“
Die Autos, die versprochen wurden, liefert VW, jeder Spieler bekommt einen Passat. Auch der Bau der Häuser beginnt, doch die in Aussicht gestellten finanziellen Boni nicht. Innerhalb der Mannschaft baut sich allmählich das Thema auf: Aus welchen Mitteln sollen wir das, was wir bekommen, denn erhalten, pflegen?
Sie nehmen das Thema mit ins Trainingslager in die Schweiz und mit in ihr WM-Quartier, das Hotel Jagdschlösschen im westfälischen Ascheberg, nahe gelegen zu den Spielorten Dortmund und Gelsenkirchen.
Zaire hat die größte Delegation. Sportminister Sampassa Kaweta ist mit zur WM gereist, zahlreiche Verbandsfunktionäre, Personal aus Mobutus Stab. Es heißt, der Minister führe das Geld für die Spieler bei sich, es werde vor dem Auftaktspiel gegen Schottland ausgezahlt, dann vor dem Jugoslawien-Match. Mobutu hatte in Zaire extra eine Fußballsteuer erlassen, um das Nationalteam auszustatten. Zunächst konnten die Spieler noch in den beiden Elektrohandlungen in Ascheberg einkaufen gehen, doch diese Mittel waren aufgebraucht – und Minister Kaweta trieb sich in anderen Städten und bei anderen Spielen herum: Deutschland – Chile in Berlin, Italien – Haiti in München. In der Mannschaft kommt der Verdacht auf: Er macht Urlaub auf Kosten der Spieler, verprasst das ihnen zustehende Geld.
Zaire verliert 0:3 gegen ein prominent besetztes Schottland um die Stars Billy Bremner und Kenny Dalglish, die letzte Viertelstunde spielen die Afrikaner das einzige britische Team, das sich qualifiziert hat, an die Wand. Hatte vielleicht sogar der deutsche Star Franz Beckenbauer Unrecht gehabt, als er sagte: „Eine WM ohne England ist keine WM. Es ergibt keinen Sinn, dass Australien, Haiti und Zaire kommen“? Schottland jedenfalls, auf das sich die britischen Zeitungen in ihrer Berichterstattung konzentrieren, gerät ins Wanken, Billy Bremner wird rassistisch ausfällig gegenüber Mdaye Mulamba, der zu Protokoll gab: „Er hat ,Nigger, hey, Nigger’ gerufen, mich angespuckt – der Schiedsrichter unternahm nichts.“
Mobutu beschimpft die Spieler nach dem 0:9: „Ihr seid Hurensöhne“
Nach dem Schottland-Match will die Mannschaft wegen der Prämien telefonisch bei Mobutu vorsprechen. Der Präsident ruft in Ascheberg an. Er ist verärgert, denn die Streik-Absichten sind ihm über seine Leute zugetragen worden. Er sichert aber zu, einen Betreuer umgehend nach München zu schicken und das beim Sportminister deponierte Geld zu holen. Die Mannschaft diskutiert, Spieler Mavuba sagt zu den anderen: „Wir werden nie die Farbe des Geldes sehen. In Europa glauben die Leute an den Weihnachtsmann, ihr glaubt an Mobutu.“ Das Geld kommt nicht, Torwart Kazadi Mwumba steigt am 18. Juni in der Kabine in Gelsenkirchen auf einen Stuhl: „Wir müssen handeln. Für null Dollar verfolge ich die Ziele Zaires nicht. Sie sollen Kaweta ins Tor stellen, die Medizinmänner in die Abwehr, die Offiziellen vom Sportministerium ins Mittelfeld und Mobutus Berater in den Sturm. Denn sie haben sich die Taschen vollgemacht.“ Trainer Blagoje Vidinic fängt, obwohl von Mobutu bereits entmachtet, die Mannschaft ein: „Ich habe mit ihm telefoniert. Wenn ihr nicht spielt, bekommt ihr ernsthafte Probleme. Ihr braucht nicht zurückzukehren – oder ihr werdet eure Familien nicht vorfinden.“
Das Spiel gegen Jugoslawien wird unter den Umständen, die die Öffentlichkeit nicht kennt und erst Jahrzehnte später erfährt, zum Desaster. Nach 0:3-Rückstand und einem Platzverweis wird auf Geheiß von Mobutus Mittelsmännern der nur 1,63 Meter große Ersatztorhüter eingewechselt. 0:9 lautet das Endresultat, das Team fühlt sich gedemütigt. Zurück im Hotel wird ihm von drei Offiziellen die jüngste Schimpftirade Mobutus überbracht: „Ihr seid Hurensöhne. Wenn ihr gegen Brasilien mehr als drei Tore bekommt, werdet ihr Zaire und eure Familien nie wieder sehen.“ So gesehen wird das letzte Spiel eines auf Leben und Tod. Zaire verliert exakt so, wie es verlieren darf: 0:3.
Der Boxkampf mit Muhammad Ali lenkte die Aufmerksamkeit auf Kinshasa
Nach der Rückkehr verhängt Mobutu über alle WM-Fahrer einen Hausarrest und Ausreiseverbot. Als in internationalen Medien Gerüchte aufkommen, der Präsident habe die Fußballstars an seine Krokodile verfüttert, werden sie wieder in der Öffentlichkeit präsentiert. Ein Glück für sie, dass die Welt schon bald auf Kinshasa blickt – wegen des Box-Jahrhundertkampfs Muhammad Ali gegen George Foreman. Ali kannte einige der Zaire-Kicker persönlich – auch das bewahrt sie wohl vor schlimmeren Konsequenzen.
In Zaire bricht die Wirtschaft zusammen und die Inflation aus. Mobutu hält sich trotzdem an der Macht. Bis 1997. Er stirbt 67-jährig im Exil in Marokko.
Etliche der Spieler verarmen, obwohl sie Haus und Auto verkaufen. Ndaye Mulumba, dem einstigen Superstar, schießen Mobutus Häscher zweimal ins Bein und werfen ihn von einer Brücke auf Eisenbahngleise, weil er einen 1994 beim Afrika-Cup in Tunesien erhaltenen Verdienstorden nicht seinem Präsidenten schenkt. Später flüchtet er nach Südafrika, wird Parkwächter.
Wenige haben Glück. Wie Kakoko, über den es einst hieß, er habe im Sprint ein Zebra besiegt. Er findet Clubs in Deutschland: VfB Stuttgart Amateure, Saarbrücken, Neunkirchen; sein Sohn Yannick Kakoko spielt sogar kurz mal beim FC Bayern München II.
Die Überlebenden des zairischen WM-Kaders erhalten seit 2015 vom nationalen Fußballverband eine monatliche Rente von 200 Dollar, es ist die verlegene, späte und kleine Wiedergutmachung einer großen Ungerechtigkeit.
Für eine WM hat sich das Land nach 1974 nie mehr qualifiziert.