Ein Spiel, ein Buch: Ronald Rengs neues Werk. © Piper
22. Juni 1974 – ein prägender Tag in der deutschen Fußballgeschichte. Der deutsch-deutschen. West gegen Ost, Bundesrepublik gegen die DDR, die im WM-Land oft noch in Anführungszeichen gesetzt wurde. Ein Samstagabend, es war das letzte Gruppenspiel, ausgetragen in Hamburg – und tabellarisch war es gar nicht so wichtig, wer gewinnt, denn beide Mannschaften waren qualifiziert für die folgende Zwischenrunde, als sie in dieses Match gingen. Chile und Australien, die beiden anderen in der Gruppe, hatten sich 1:1 getrennt, sie waren dadurch Dritter und Vierter und ausgeschieden. Die DDR-Mannschaft war etwas verspätet von ihrem Hotel in Quickborn aufgebrochen, weil Nationaltrainer Georg Buschner im Radio die Live-Reportage zu Ende hören wollte (es hatte wetterbedingt eine Verzögerung gegeben). Man kann dieses Detail lesen im Buch „1974. Eine deutsche Begegnung“ von Ronald Reng (Piper, 430 Seiten, 24 Euro).
Es gehört zum deutschen Sport-Grundwissen, dass die Partie in einer Sensation endete und welcher Name für sie stand: Die DDR gewann 1:0, das Tor erzielte ihr Stürmer Jürgen Sparwasser. Er kommt in diesem Buch nur kurz vor, Autor Ronald Reng erreicht ihn telefonisch – und erfährt wie andere vor ihm, dass Sparwasser, der im Fußball so viel mehr verbracht hat, in der großen Wahrnehmung reduziert wird auf diesen einen Moment. Man kann auf die ohnehin auserzählte Sparwasser-Story verzichten, weil dieses Spiel vom 22. Juni hinführt zu anderen Lebensgeschichten. Und sie sind es, die ein Bild der Zeit vor 50 Jahren schaffen.
Ronald Reng ist ein grandioser Fußballautor. Mit seinen Biografien über Robert Enke und Mirolsav Klose hat er Maßstäbe für das Genre gesetzt. Ein cleveres Buch von ihm ist „Spieltage“, worin er über die Person Heinz Höher, einigen wohl noch bekannt als Trainer des 1. FC Nürnberg, die Geschichte der Bundesliga erzählt. Auch „1974“ liefert viel mehr als den Abriss eines Tages. Reng lässt sprechen: Matthias Brandt, den Sohn des damals gerade Ex-Bundeskanzlers; den inhaftierten RAF-Terroristen Klaus Jünschke; die spätere Krimiautorin (“Bella Block“) Doris Gercke, die als West-Kommunistin die Fans aus dem Osten betreute; den Journalisten Hans Eiberle; den DDR-Widerständler Roland Jahn, der später die Stasi-Unterlagenbehörde leiten wird. Und Spieler erzählen: Günter Netzer vor allem, für den 20 Minuten nach Einwechslung der einzige Auftritt bei der WM sind. Er war der deutsche Star der EM 1972 gewesen, der Popstar des Fußballs – aber einfach nicht in Form. Seine besten Momente hatte er im Abschlusstraining vor dem Finale, als er den niederländischen Star Johan Cruyff doubelte.
GÜK