SERIE: DIE UNERZÄHLTEN UND VERGESSENEN GESCHICHTEN DER FUSSBALL-WELTMEISTERSCHAFT 1974 (FOLGE 8)

„Wir hatten Talent, aber wenig Geld“

von Redaktion

Der damalige Co-Trainer Les Scheinflug über Australien und das Spiel, das ihm eine Ehre war

Nach Auslosung: Hoffnung aufs Weiterkommen. © imago

Man sieht ihm den Stolz an: Aussie-Kapitän Peter Wilson bei Handschlag und Wimpeltausch mit Franz Beckenbauer. © imago

Zum Verteidigen gezwungen: Australien beim 0:3 gegen Deutschland. Die Stärke des Teams war eigentlich die Offensive. © Imago

Die Deutschen im australischen Team: Manfred Schaefer (l.) und Co-Trainer Les Scheinflug. © imago

Neben Zaire und Haiti feierte mit Australien ein weiteres exotisches Fußballland vor 50 Jahren seine WM-Premiere. Das Team aus Down Under war auch deutscher Gegner in der Vorrundengruppe. Die Medien stürzten sich vor allem auf Manfred Schaefer, Abwehrspieler, gebürtiger Deutscher – und von Beruf Milchmann. Schaefer verstarb 2023. Doch er war nicht der einzige Deutschstämmige im Kader. Co-Trainer Les Scheinflug kommt aus dem niedersächsischen Bückeburg und war als Jugendlicher mit den Eltern nach Australien ausgewandert. Scheinflug war später Cheftrainer der australischen Nationalmannschaft, sprang mehrmals interimistisch ein, trainierte diverse U-Auswahlteams des Verbandes. Er ist heute 85. Das Interview fand auf Deutsch statt.

Australien hatte den weitesten Weg zur WM nach Deutschland – nicht nur bedingt durch die Anreise 1974, sondern die Qualifikation. 80000 Kilometer kamen so zusammen. Für Spieler, die auch noch normale Berufe hatten.

Was kann man machen? Wir mussten Entscheidungsspiele gegen Südkorea spielen. Wir haben nicht genügend Geld gehabt, um uns richtig vorzubereiten. Wir waren nur Teilzeitprofessionals. Als wir uns für die WM in Deutschland qualifiziert hatten, sind wir für zwei, drei Wochen Vollzeitprofis geworden. Wären wir länger zusammen gewesen, hätten wir besser spielen können.

Manfred Schaefer war Milchmann, konnte erst nach der Arbeit trainieren, auch Schlosser und Maler waren im Team vertreten. Wie war es bei Ihnen? Konnten Sie vom Fußball leben?

Mit 14 habe ich noch in Bückeburg angefangen zu arbeiten, mit 17 bin ich mit meinen Eltern nach Australien ausgewandert und habe für den FC Prague in Sydney gespielt, das war für fünf Jahre die beste Mannschaft. Wir hatten australische Nationalspieler, einige Ungarn. Ich habe etwa das vierfache Gehalt eines Arbeiters bekommen, davon habe ich gelebt. Das ist mit heute natürlich nicht vergleichbar.

Was wusste man über die Gegner der WM 1974, über Bundesrepublik, DDR, Chile? Videomaterial gab es damals ja wohl noch nicht.

Ich bin 1970 Assistent bei der australischen Mannschaft geworden, Cheftrainer war Rale Rasic aus Jugoslawien. Wir hatten überall Bekannte. Wenn die Deutschen irgendwo gespielt haben, haben wir davon erfahren. Nur über Ostdeutschland wussten wir wenig. Über Chile haben wir einiges erfahren, weil viele Südamerikaner in Australien leben. Wir hatten keine Fernsehbilder und keine DVDs, ab und zu ist einer von uns zu Freundschaftsspielen unserer kommenden Gegner geflogen, um sie zu beobachten. Mit diesen Eindrücken haben wir gearbeitet.

Wie gut war Ihr Team?

Wir selbst hatten eigentlich genügend Talent in unserer Mannschaft, aber die Konkurrenz in Australien war halt nicht stark genug. Mehr als Halbprofitum konnten wir uns nicht leisten. Zwar waren wir in der Lage, ein Spiel gut zu bestreiten, konnten uns aber nicht so schnell wie richtige Profis davon erholen. Man regeneriert nach einem gewonnenen Spiel auch besser als nach einem verlorenen – doch als Amateure verliert man öfter…

Vor der WM musste Ray Baartz, der in den 60er-Jahren mal für Manchester United gespielt hatte, seine Karriere beenden, weil er in einem Spiel gegen Uruguay an der Halsschlagader verletzt wurde. Wäre es mit ihm in Deutschland besser gelaufen?

Alle sagten, er hätte uns sehr gefehlt. Ich als Trainer sehe das nicht so. Er war ein Stürmer und vielleicht ein Tor besser und begabter als die anderen.

Manfred Schaefer wurde in Deutschland zum Mythos. Die Geschichte vom Milchmann, der bis zu 40 Kilometer zurücklegt, ehe er noch trainiert, faszinierte uns. Wie gut war er?

Er war gut im Kopfball, und Kondition war seine Stärke. Er hat Milch ausgeliefert an private Haushalte und an Firmen, sein Fitnesslevel war hoch. Sogar besser als das der Profis, weil er so viel gerannt ist. Manfred war ein Stopper, wie gut er war, haben wir in Freundschaftsspielen gegen Everton und den FC Chelsea gesehen. Als Trainer konnte man sich sehr auf ihn verlassen. Er war eine große Persönlichkeit unseres Fußballs.

Was bedeutete Ihnen das Spiel in Hamburg gegen Deutschland?

Für mich war es eine Ehre, dass ich antreten durfte gegen Spieler, von denen ich viel gelesen hatte. In Hamburg haben mich viele Schulfreunde besucht. Seitdem ist viel dazugekommen in meinem Leben, auf das ich auch stolz sein kann. Ich war mit Australien bei drei Olympischen Spielen, habe mich, wenn man die U-17 und U-20-Mannschaften dazunimmt, 14 Mal für eine Weltmeisterschaft qualifiziert. 1999 in Neuseeland haben wir das Finale der U17-WM gegen Brasilien in der Verlängerung verloren. 1997 waren wir mit der A-Nationalmannschaft beim Confederations Cup, erreichten das Finale gegen Brasilien. In der Vorrunde hatten wir ein 0:0 erreicht, im Endspiel ist nach 15 Minuten unser Mittelstürmer vom Platz geschmissen worden, wir haben dann 0:6 verloren. Wir sind nach 1974 viel rumgekommen mit Australien.

Das Spiel gegen Deutschland am zweiten Gruppenspieltag verloren Sie 0:3. Doch die deutsche Elf hatte Probleme, zwischen Franz Beckenbauer und dem ungeduldigen Publikum kam es zu einem Konflikt, der große Star wurde ausgepfiffen. Hätten Sie nicht doch eine Chance gehabt?

Wir haben immer gedacht, wir hätten eine Chance. Aber es gab einen großen Unterschied: Erfahrung, davon hatte Deutschland mehr. Wir hatten fünf richtige Stammspieler, wenn von denen einer ausfiel, war er nicht zu ersetzen. Bei den Deutschen gab es 18, von denen einer für den anderen problemlos einspringen konnte. Was wir hatten, war die Mentalität, immer nach vorne zu gehen und Tore schießen zu wollen. Verteidigen oder das Spiel bewusst zu verlangsamen, das lag uns nicht so sehr. Erfolge hatten wir, wenn wir unseren Stil durchsetzen konnten: körperlich und mental stärker zu sein. Wir wussten nicht, was uns erwartet, als wir nach Deutschland flogen. Uns war klar, dass wir nicht Weltmeister werden, wir hatten aber schon das Selbstbewusstsein, zu hoffen, dass wir über die Vorrundengruppe hinaus kommen. Sonst hätten wir nicht hinzufahren brauchen.

Wie reagierte das Publikum in Deutschland auf die Aussies?

Viele Clubs wie Stuttgart wollten uns einladen nach der WM, dass wir Spiele gegen sie bestreiten – aber wir mussten zurückkehren nach Australien, denn wir waren keine Profis und hatten keine Zeit. Nur Rale Rasic, unser Trainer, ist noch ein wenig geblieben. In Deutschland sind wir bei den Leuten gut angekommen, auch die Australier zuhause waren stolz auf uns – obwohl wir keine Tore geschossen haben. Kein einziges (0:2 gegen die DDR und 0:0 gegen Chile waren weitere Resultate, d. Red.). Aber Australier sind sehr vernünftige Leute, sie bedrohen ihre Sportler nicht, auch wenn die nicht erfolgreich sind.

Australien ist Deutschland acht Stunden voraus. Fanden die Spiele noch zu halbwegs günstigen Fernsehzeiten statt?

Die Spiele waren um 22, 23 Uhr abends – und es wurde geschaut, das Interesse war 1974 groß. In Australien leben viele Auswanderer, aus Deutschland, Ungarn, Griechenland, Italien, die sind alle fußballverrückt. Auch unser Team war ein Abbild der Gesellschaft. Wir hatten Deutsche, Jugoslawen, Griechen, Italiener, einen Engländer, einen Schotten – alles war dabei.

Was hat die WM-Teilnahme bewirkt? Es dauerte bis 2006 und kurioserweise zur nächsten WM in Deutschland, dass Australien sich wieder qualifizieren konnte.

Die falschen Leute haben den Erfolg geerntet. All die Spieler, die 2006 in Deutschland dabei waren, die haben wir trainiert in unseren Jugend-Nationalmannschaften und gemacht. Nicht Guus Hiddink und seine holländischen Mitarbeiter. Die haben die Erdbeeren aus dem Garten geholt, als sie schon reif waren.

Australien ist jetzt öfter bei der WM dabei. Und nicht mehr nur der krasse Außenseiter.

Zu unserer Zeit war es schwieriger, weil man in eine Extra-Qualifikation mit den Südamerikanern musste. Durch den Wechsel des australischen Verbands in die asiatische Föderation ist es leichter gewordeb, von dort qualifizieren sich mehr Mannschaften. Und natürlich ist alles professioneller geworden. Alle Mannschaften bei einer WM sind fit, sie können verteidigen und kontern.

INTERVIEW: GÜNTER KLEIN

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