Eine seiner guten Aktionen: Im Strafraum rettet Manuel Neuer gegen Mudryk. © Imago
Nürnberg – Diese Aktion kurz vor Schluss des Spiels gegen die Ukraine – sie führte den alten, den weltberühmten Manuel Neuer und seine jetzige Version zusammen.
Wie er erahnte, dass eine Fehlerkette im deutschen Spiel am Entstehen war und den Konter der Ukrainer nahe der Mittellinie abfing, diese Antizipation – das war ein Revival seiner Großtaten vor allem im WM-Achtelfinale gegen Algerien vor zehn Jahren.
Doch das Erstaunen über Neuers Klasse wandelte sich blitzschnell in Entsetzen, denn sein Versuch, den Ball in den deutschen Gegenangriff zu chippen, misslang – und die Ukrainer hatten eine verwaiste deutsche Hälfte und ein leeres Tor vor sich. Und auf einmal wirkte Neuer mit seinen 38 Jahren und seiner Verletzunghistorie eben doch wieder wie der zuletzt in der Bundesliga patzende Bayern-Spieler.
Julian Nagelsmann spielte die Szene als belanglos herunter: „Der Schock war nicht so groß, denn es war in einer Millisekunde ersichtlich, dass der ukrainisch Spieler im Abseits ist.“ Sofort war auch Manuel Neuers Reklamierarm nach oben gegangen, und es stimmte auch: Als er den Ball von Andriy Yarmolenko bekam, den der DFB-Keeper versehentlich angespielt hatte, stand Artem Dovbyk im Abseits. Der Linienrichter reagierte sofort. Doch dass die Situation folgenlos blieb, bedeutete keineswegs, dass Neuer hier nicht ein Fauxpas unterlaufen wäre. Er selbst erklärte: „Yarmolenko war nicht in meinem Blickfeld, sondern der Maxi.“ Er habe den Kollegen Mittelstädt anspielen wollen.
Nun ja, auch Wahrnehmung und peripheres Sehen sind Torhüterthemen – doch bei der Nationalmannschaft werden sie ausgeblendet. Julian Nagelsmann, dessen Verhältnis zu Neuer in der gemeinsamen Zeit in München ein schwieriges wahr, hat sich – vielleicht auch um zu zeigen, dass er als Bundestrainer über einstigen Scharmützeln auf Vereinsebene stehen kann – auf Neuer als EM-Torwart festgelegt. „Ich habe Vertrauen, Sicherheit und Rückendeckung bekommen“, freut Neuer sich, seinen alten Status zurückbekommen zu haben. Denn das erste Länderspiel seit Dezember 2022 und dem folgenden Beinbruch war für ihn eine Bestätigung seiner Leistung abseits des Spielfeldes: „Es war ein langer, steiniger Weg und harte Arbeit. Wenn ich nicht drangeblieben wäre, hätte ich es nicht geschafft.“
Neuer erkennt freilich auch die missliche Situation von Marc-Andre ter Stegen, der nach einer erneut starken Saison in Barcelona wieder nur die deutsche Nummer zwei sein wird – wie schon 2018, als Neuer nach langer Verletzungspause sofort wieder seine alte Stelle bekam. „Ein bekanntes Problem. Das ist leider so, aber Teil des Business. Es gab noch keinen Trainer, der zwei Leute ins Tor gestellt hat.“ GÜNTER KLEIN