Wer darf nach Paris? Kevric und Seitz kämpfen. © IMAGO
München – Wer Elisabeth Seitz verstehen will, muss den Blick 278 Tage zurückwerfen. Als an diesem verflixten Montag im September bei der Akrobatikbahn am Boden die Achillessehne riss, zählte die 30-Jährige sofort rückwärts. Operation, Reha, Aufbautraining: Der Zeitplan bis zur möglichen Qualifikation für die Olympischen Spiele in Paris – ihre vierten – war eng, aber Seitz ist eine Kämpferin. Alles, was in diesen knapp 40 Wochen, also 6672 Stunden, 400 320 Minuten oder 2 4019 200 Sekunden seitdem lauten Knall in ihrem Fuß passiert ist, war ausgerichtet auf jenen Moment, der am Samstag bei den Finals in Frankfurt gekommen war – und ein mittelschweres Beben im DTB ausgelöst hat. Denn es gibt nur noch einen Platz für Paris.
14,6 Punkte hatte Seitz am Samstag für ihre Kür am Paradegerät Stufenbarren erhalten, 14,75 waren es sogar am Sonntag im Gerätefinale, wo sich die Europameisterin von 2022 ihren 26. nationalen Titel sicherte. Legt man die Ergebnisse der letzten Kunstturn-WM zugrunde, wäre Seitz auf Platz fünf gelandet, eine Medaille nur 0,166 Punkte entfernt. Weil ihre Stuttgarter Teamkollegin Helen Kevric allerdings an drei weiteren an den Start ging und mit 55,5 Punkten einen Vierkampf abschloss, der im deutschen Frauenturnen Rekord ist, befindet sich die 16-Jährige laut Bundestrainer Gerben Wiersma „in der Pole Position“. Platz vier wäre es in Antwerpen gewesen, Abstand zum Podium: 0,8 Punkte.
Die Regularien sind klar: Platzierung schlägt Punkte – und weil Seitz sich darüber aufregt, dass der Abstand zu den Medaillenrängen nicht zählt, hat sie ordentlich Gegenwind bekommen. Auf Instagram sah sie sich dazu gezwungen, Hasskommentare zurückzuweisen – und versicherte: „Ich habe großen Respekt vor Helens Leistung.“ Sie will kein böses Blut, vor allem nicht mit jener jungen Dame, die parallel mit ihr im Kunstturnforum Stuttgart trainiert – und die Hoffnungen einer ganzen Turn-Generation trägt. Kevric soll Seitz‘ Nachfolgerin werden, das ist allen klar. Nur soll, darf, muss das schon in Paris 2024 sein?
Interviews will Seitz gerade nicht geben, Kevric schweigt sowieso. Das Generationen-Duell aber wird die zweite Olympia-Qualifikation am 22. Juni in Rüsselsheim auch ohne weitere Worte beherrschen. Es wird um jeden Winkelgrad, jeden krummen Zeh, jeden Mini-Schritt gehen, wenn Seitz und Kevric an die Geräte gehen. Am Ende werden die Kampfrichter entscheiden, ob sich dann 292 Tage Kampf gelohnt haben. HANNA RAIF