IM BLICKPUNKT

Wenn 66000 mehr als 75000 sind

von Redaktion

Joshua Kimmich war überrascht von seinem Stadion. Er kennt es anders, und das lag nicht nur daran, dass er mit der Nationalmannschaft die Kabine beziehen musste, die normal die des Gäste-Teams ist. Draußen auf dem Rasen, als er sich umschaute und über 90 Minuten immer wieder die Atmosphäre des EM-Eröffnungsspiels aufsog, hatte er den Eindruck, „dass es voller war als sonst“. Er war dann erstaunt, zu hören, dass die Kapazität aufgrund durchgehender Sitzplatzbestuhlung viel geringer war als im Bundesliga-Alltag: 66000 statt 75000. Okay, meinte Kimmich und gönnte sich eine ironische Anmerkung: „Beim FC Bayern kommen manche erst nach zehn Minuten.“

Wieder einmal zeigt sich: Turnierfußball wird anders ge- und erlebt, eine EM oder WM alle zwei Jahre sorgt verlässlich für einen Ausnahmezustand. Die Systeme von UEFA und FIFA funktionieren. Doch worin genau liegt der Unterschied zum Gewohnten?

Volle Stadien: In der Bundesliga sind viele Spiele ausverkauft, doch die sogenannte No-Show-Rate liegt nach von der Deutschen Fußball Liga selbst veranlassten Messungen bei zehn Prozent. Vor allem Dauerkarten werden selektiv genutzt. Die Tickets bei einem Turnier sind viel zu begehrt und auch zu teuer, um sie verfallen zu lassen. Das Problem, dass die Kartenkontingente von Sponsoren ungenutzt bleiben, haben die Verbände in den Griff bekommen.

Kein Heim, kein Auswärts: Unter den an einem Spiel beteiligten Verbänden werden die Karten gleichberechtigt aufgeteilt. Es gibt also kein 90:10 wie in der Bundesliga oder 95:5 wie in den europäischen Vereinswettbewerben. Der Support für die Mannschaften kommt aus allen Teilen des Stadions, er orientiert sich am Spielgeschehen, ist nicht ritualisiert wie in den Ultraszenen, für die Nationalmannschaften wenig Identifikationsfläche bieten. Und auch wenn Deutschland optisch auf den Rängen eine Dreiviertelmehrheit hatte – akustisch war Schottland auf Ohrenhöhe.

Stadionshow: In den Arenen ist viel Show geboten. Es gibt für jede Fan-Seite einen DJ, es wird auf die Nationen abgestimmte Musik gespielt, per Video gibt es Grüße von Fußball-Legenden. Selbst simple Elemente wie die Vorstellung der Mannschaften und der Countdown zum Anpfiff funktionieren.

Lebendige Städte: Auch die fürs Public Viewing ausgewiesenen Fan-Zonen tragen zum speziellen Ambiente bei. Mittlerweile sind Menschen bereit, auch ohne Tickets anzureisen, um irgendwie Teil des Ganzen zu werden. Die Spieler sind gerührt, wie Schottlands Kapitän Andrew Robertson sagte: „Es fühlt sich an, als wäre das ganze Land hier. Einige der Fans kennen wir auch persönlich.“ Es stellte auch mit den Deutschen etwas Gutes an. Thomas Müller: „Wir haben den ganzen Tag über Videos von einem Meer feiernder Fans in München zugespielt bekommen.“

Motivation: Julian Nagelsmann wurde nach dem 5:1 gegen Schottland philosophisch. Er verriet: „Ich verlange von den Spielern, dass sie das hier genießen. Dass sie wissen, dass der Druck ein Privileg ist und viele Menschen auf der Welt mit ihnen tauschen würden.“ GÜNTER KLEIN

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