„Pure Klasse“: Mit seinem schwächeren Fuß, dem linken, hat Ilkay Gündogan zum 2:0 getroffen. © dpa/Tom Weller
Stuttgart – Das Bild von Ilkay Gündogan war erschütternd. Ein junger Mann, 23 Jahre alt damals, Hochleistungssportler, aber nur noch eigentlich, denn das Trikot spannte, der Bauch war nicht zu verbergen und keine Photoshop-Gemeinheit. Ilkay Gündogan befand sich auch ganz weit weg von Deutschland und seinem Verein Borussia Dortmund. Er hielt sich auf der Krim auf, in einer Geschichte war zu lesen vom „russischen Militärhospital“, was der Sache einen noch skurrileren Anstrich verlieh. Es war ein vor allem auf Kinder spezialisiertes Krankenhaus mit langer ukrainischer Tradition – daran änderte auch die Annektion der Halbinsel wenige Monate vor Gündogans Aufenthalt nichts.
Er hatte sich dort behandeln lassen, weil seine Karriere sich aufzulösen drohte. In der Saison 2013/14 hatte Gündogan für den BVB nur ein Punktspiel bestreiten können. Sein Nervwurzelreizsyndrom ging nicht weg, der Rücken machte ständig zu, die Bewegungsfähigkeit war eingeschränkt. Auf der Krim erfuhr er Linderung, doch entschloss sich im Sommer 2014 zu einem konservativen Eingriff in München. Allerdings: Die WM 2014 fand ohne ihn statt, obwohl er im Langzeitkonzept von Bundestrainer Joachim Löw als Stammkraft vorgesehen war. Auf der Position von Bastian Schweinsteiger, der zum Hero de Janeiro wurde. Löw schätzte das Potenzial von Gündogan noch ein wenig höher ein. Doch einer breiten Fan-Öffentlichkeit blieb es verborgen, obwohl ein nach seiner OP von 2014 stabilerer Gündogan doch eine ordentlich Anzahl an Länderspielen eingesammelt hat.
Das gegen die Ungarn am Mittwoch bei der EM war sein 79., garniert mit dem 19. Tor, das sind starke Werte – und dennoch war die Frage berechtigt, ob er sich nun angekommen fühle in diesem Team und in dieser Rolle. Er hatte schon vor dem Auftakt gegen Schottland darüber gesprochen, „dass ich lügen würde, wenn ich sage, dass es mich nicht beschäftigt“, warum er vor allem als erfolgreicher Vereinsspieler wahrgenommen werde, im Nationalteam aber als umstritten gelte. Obwohl er seit September 2023 auch Kapitän ist. Aber noch bis kurz vor dem Turnier liefen Debatten, ob die Binde Einsätze garantiere. „Auch 2022 und 2018 gab es Diskussionen um meine Person.“
2018 war er bereits ein angesehener Spieler von Manchester City, Trainer Pep Guardiola sang Elogen auf den Mittelfeldmann. Die WM in Russland sollte Gündogans erstes richtiges Turnier werden, bei der EM 2012 war er ohne Einsatz geblieben. Doch er verstrickte sich in die Erdogan-Affäre. Im Grunde fast noch tiefer als Mesut Özil, weil das Trikot mit der herzlichen Widmung an den Präsidenten mit autokratischen Zügen von Gündogan stammte. Allerdings war das Krisenmanagement des eloquenten Gündogan besser als das des schüchternen Özil, der von seinem Umfeld schlecht beraten war. Ilkay ließ sich unterstützen von seinem älteren Bruder Ilker, Politikwissenschaftler an der Ruhr-Universität in Bochum. Und der damalige DFB-Präsident Reinhard Grindel war ganz begeistert von Ilkay Gündogans Persönlichkeit, als sie sich vor dem ersten Nach-WM-Länderspiel gegen Frankreich in München im Hotel länger unterhielten. „Ganz feiner Mensch, ganz kluger Geist“, sagte Grindel.
Die Erdogan-Affäre wirkt heute kaum noch nach. Ein Thema war allerdings, dass Gündogan im Nationalteam selten glänzte. Man kann das jedoch auch mit seiner Spielweise erklären. „Mein Spiel ist darauf ausgelegt, die Mitspieler besser zu machen, bevor ich selbst gut aussehe.“ Er ist die ordnende Hand im Zusammenwirken mit Jamal Musiala und Florian Wirtz, er nennt sie „die Freigeister“.
Wichtig für Gündogan: eine veränderte Konkurrenzsituation im Mittelfeld. Bis vor Kurzem war er in Kompetenzkämpfe mit vor allem den Bayern Kimmich und Goretzka verstrickt. Der eine ist nun Verteidiger, der andere nicht dabei. Die weitere Entzerrung: Gündogan spielt nicht neben Kroos, sondern vor ihm. Und das klappt. „Oft genügt uns eine Millisekunde Blickkontakt.“
Gündogan ist zudem selbst zum Offensivfaktor geworden. Wie gegen Ungarn. Robuster Vorbereiter des 1:0 (“In der Premier League hätte man gelacht, wenn das als Foul gepfiffen worden wäre“), Vollstrecker zum 2:0. Kommentar von Mitspieler Maxi Mittelstädt: „Pure Klasse.“ GÜNTER KLEIN