Erleichtert, dass sich das Risiko ausgezahlt hat: Bundestrainer Julian Nagelsmann (M) umarmt Toni Kroos. © Gambarini/dpa
Frankfurt – Julian Nagelsmann erklärte am Ende eines langen Abends in der Frankfurter Arena, warum er welchen Wechsel vorgenommen hatte. Jamal Musiala und Florian Wirtz, die beiden strahlenden Jungstars, „die alles am Boden regeln können“, runter, „weil wir noch einen Kopfballspieler benötigten“. Maxi Beier erstmals rein, „weil er unser schnellster Spieler im Kader ist“. Auch bei denen, die von Anfang an auf dem Glitsch-Platz gestanden waren, veränderte der Bundestrainer die Formation: Robert Andrich agierte mit einem Mal im Abwehrzentrum statt im Mittelfeld, während Innenverteidiger Antonio Rüdiger als Co-Mittelstürmer im Schweizer Strafraum auf Flanken lauerte. „Wir haben ein hohes Risiko genommen, die Schweiz hätte auch ein zweites Tor erzielen können“, aber – und nun kam wieder ein typischer Nagelsmann-Gag – „wer nicht wagt, der nicht … unentschieden spielt“. 1:1 im letzten Vorrundenspiel, Gruppensieg gerettet, weil Niclas Füllkrug, auch er einer der Eingewechselten, die Flanke von David Raum in der Nachspielzeit einköpfte.
Der Punkt sicherte den schon entglitten geglaubten ersten Platz in der Gruppe A, der das Turniertableau etwas freundlicher aussehen lässt. Doch es ging nicht nur um den rein sachlichen Aspekt eines vielleicht angenehmeren Achtelfinales, sondern um das Emotionale. Es ging um den Moment.
Fußballprofis sind oft weniger firm in der Geschichte ihres Sports als Fans, was sie selbst nicht wahrgenommen haben, interessiert sie nicht – doch in diesem Fall ist die Referenz greifbar. Bei den älteren wie Toni Kroos, der „2006 auf etlichen Fanmeilen war“, sowieso, und für die 21-Jährigen ist es eine erste gefühlige Erinnerung an das, was eine Aktion im Fußball auslösen kann. WM 2006 also, Deutschland müht sich im Dortmunder Westfalenstadion damit ab, die polnische Mauer zum Zerbröckeln zu bringen. Auf den letzten Drücker setzt sich dann David Odonkor auf der rechten Seite durch, flankt flach in die Mitte, wo Oliver Neuville in den Ball rauscht. Zum 1:0 und somit zum Sieg (nicht zu einem 1:1), die Hereingabe kam von der anderen Seite als nun die von David Raum, der Abschluss von Niclas Füllkrug erfolgte per Kopf, nicht mit dem Fuß – und doch, es waren mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede. Es zählte das Gefühl, es hinbekommen zu haben. Durchs Coaching, durch den Glauben der Spieler an sich, durch den Mannschaftsgeist. Durch eine individuelle Geschichte wie die von David Raum: „Zwei Spiele habe ich mit den Hufen gescharrt. Ich habe auf den Turniermoment hingearbeitet, das war er.“
In diesen Punkten fühlte sich das auf dem Papier kärgliche Remis gegen den kleinen Nachbarn wie ein Sieg an. Doch dem „Explosionsmoment“ vorausgegangen waren Zweifel, weil die DFB-Elf aus ihrer Feldüberlegenheit (19:4 Schüsse) nichts machen konnte und sich der Trend zur defensiven Anfälligkeit im Vorrundenverlauf fortsetzte. „Lange Zeit war es schon sehr ruhig“, fiel dem Bundestrainer eine Einbuße in der Stadionatmosphäre auf. Es klang mehr pflichtschuldig als überzeugt, als Nagelsmann von einer „guten Probe für K.o.-Spiele“ sprach. Man weiß zwar, dass man aus solche Situationen herauskommen kann – aber eben auch hinein.
Der Gegner im Achtelfinale am Samstag (21 Uhr) in Dortmund ist bis in den späten Dienstagabend hinein ungewiss. Und unwahrscheinlich, dass die deutsche Mannschaft wie bislang gewohnt zum großen Gemeinschaftsgucken im Freien zusammenkommt. „Wir haben“, so Nagelsmann, „in unserem Camp eine brutale Mückenplage.“ Noch ein neues EM-Problem, das aufgetaucht ist. GÜNTER KLEIN