Auf ein gelingendes Turnier: Andreas Rettig. © dpa
Eher ungewöhnliche Karrieren: Deniz Undav (li.) und Chris Führich auf einer Pressekonferenz. © Gambarini/dpa
Herzogenaurach – Die aktuelle Zahl lautet: 25,5 Millionen. Das war am Sonntagabend die Einschaltquote beim Spiel Deutschland – Schweiz, allein im linearen Fernsehen. Dazu muss man das Streaming rechnen, die Fanzonen. Sagen wir: 30 Millionen, vielleicht sogar mehr. Und das ist ein gewaltiger Sprung im Vergleich zur Winter-WM 2022, da kam das beste deutsche Match auf 17,44 Millionen, eines, das gegen Japan, fand sogar nur 9,23 Millionen Interessenten – geringfügig mehr als im Jahr 2020, als ein Länderspiel sogar mal der Trödel-Show „Bares für Rares“ unterlag.
Wesentliche Teile des Landes schauen also wieder hin, wenn die Nationalmannschaft spielt. Andreas Rettig, 61, der Geschäftsführer des Deutschen Fußball-Bundes, registriert den Wandel mit Wohlwollen. Bis zu seiner Einstellung galt der frühere Bundesliga-Manager als Chefkritiker des DFB, der Perspektivwechsel hat ihm milde gestimmt. „Die Schwelle, die Mannschaft zu verdammen, ist höher, wenn man in der Blase lebt“, räumt er ein. Doch das ist auch die jetzige externe Sichtweise: Die Mannschaft, die nun gar nicht mehr offiziell „Die Mannschaft“ heißt, kommt bei den Menschen an, „sodass sie auch mal einen Fehlpass verzeihen“ (Rettig). Bei seinem Amtsantritt im Sommer 2023 hatte Rettig gegenüber den Mitarbeitern in der Frankfurter Verbandszentrale als Ziel ausgegeben, das Peinlichkeitsimage des DFB zu bekämpfen. Das scheint in einer Wechselwirkung mit dem sportlichen Aufwind zu gelingen. Das Team und der DFB sind wieder cool.
Doch was genau hat dazu geführt?
Ausstrahlung der Mannschaft: Sie ist eigentlich ein Abbild dessen, was in den vergangenen Jahren im deutschen Fußball strukturell schiefgelaufen ist. Doch gerade die Spieler mit den ungewöhnlichen Karrieren machen den Kader interessant. Füllkrug, Undav, Führich, Mittelstädt, Andrich, Beier – sie sind alle auch mal gescheitert, das schafft Identifikationsfläche. Sie bieten einen schönen Kontrast zu den Granden Neuer, Kroos, Müller und den mit Talent gesegneten Musiala und Wirtz.
Kommunikation: Hier ist der DFB besser geworden. Die häppchenweise erfolgte Nominierung des EM-Kaders über Influencer, Musiker oder Helden des Alltags hat das Interesse gesteigert. Die guten Geschichten wie die von der Bahnanreise Niclas Füllkrugs zur Mannschaft werden bewusst verbreitet. Unter den Spielern gibt es herausragende Kommunikationstalente wie Thomas Müller und Kapitän Ilkay Gündogan. Charmant war ein Videoformat, das der DFB über seine Website spielte: Er ließ Florian Wirtz und Jamal Musiala in Wohnzimmeratmosphäre Spielszenen kommentieren – ein Gewinn.
Der Trainer: Ob Julian Nagelsmann beim DFB erfolgreich sein wird, muss sich erst noch zeigen. Doch die von der langen Zeit mit Joachim Löw ermüdeten und von Hansi Flick enttäuschten Fans sind dankbar, mal einen anderen Typ Bundestrainer zu erleben. Zudem wurde bekannt: Nagelsmann ging vertragliche und finanzielle Risiken ein.
Reduziertes Marketing: Diesmal gibt es keine Dauerberieselung mit einer sich zuprostenden oder zum Kontoabschluss joggenden Mannschaft. Klar, die Männer-Nationalmannschaft ist bei Sponsoren nach kargen Jahren nicht mehr so gefragt wie einst. Es gibt ein paar Einzelverträge wie von Thomas Müller für einen Proteindrink und Joshua Kimmich für Grillsoßen – aber das ist es schon. Adidas veranstaltete ein paar Events in Herzogenaurach, doch die Wirkung blieb lokal. Dass mit Check 24 und Puma zwei Nicht-Partner des DFB werblich absahnen,
Keine Politik: Aus der Überforderung der Spieler mit politischen Themen in Katar und der Vorführung der DFB-Spitze durch Gianni Infantino hat man Schlüsse gezogen. Diesmal gilt die Konzentration dem sportlichen Abschneiden. Die skurrile WDR-Umfrage („21 Prozent wünschen sich eine weißere Nationalmannschaft“) war nur kurz ein Thema und wurde von Nagelsmann und Joshua Kimmich mit klaren Worten abmoderiert. In einer kurz vor dem Turnier abgeschlossenen Erhebung des Instituts für Generationenforschung hatten zwei Drittel angegeben, mit politischen Themen bei der EM nicht behelligt werden zu wollen.
Zwar wissen gerade die parteipolitisch engagierten Bernd Neuendorf, der DFB-Präsident, und sein SPD-Freund Rettig, dass die Felder nicht zu trennen sind – doch bei der EM gelingt dies leichter als im Kontext einer WM. Die deutsche Haltung zu Saudi-Arabien als Gastgeber 2034 wird früh genug abgefragt werden – aber nicht jetzt.
Andreas Rettig nimmt ein „zartes Pflänzchen des Optimismus“ wahr, was die Resonanz für die Nationalmannschaft betrifft. Auch wenn es nicht zum erträumten Titel reichen sollte. Denn dem stellen sich noch ein paar Teams entgegen, Spanien könnte eines sein. „Eine wirklich gute Truppe – puh.“ GÜNTER KLEIN