KOLUMNE

Darauf schauen wir Scouts während des Turniers

von Redaktion

Marco Neppe (38) gilt in der Branche als Diamanten-Entdecker. 2014 kam der Ex-Profi als Scout zum FC Bayern, von 2017 bis 2021 leitete er die Abteilung. Bis vergangenen April war er als Technischer Direktor mitverantwortlich für die Kaderplanung des Rekordmeisters. In unserer Zeitung erklärt Neppe die Sicht eines Vereins-Entscheidungsträgers auf die EM.

Als ehemaliger Technischer Direktor des FC Bayern verfolge ich die Spiele hauptsächlich durch die Vereinsbrille. Es fällt mir schwer, nach zehn Jahren ein solches Turnier nur mit Bierflasche in der Hand an mir vorbeigleiten zu lassen. Natürlich will auch ich weiter am Ball bleiben und wichtige Erkenntnisse über den Fußball-Markt für mich ziehen.

Wie wir wissen, werden bei so einem Turnier die Profis, die man als Club auf dem Zettel hat, aus ihrem vertrauten Vereinsumfeld herausgerissen. Gerade das macht die EM besonders für Scouting-Abteilungen interessant und aufregend. Spieler werden unter maximalem Druck bei ihren Nationalmannschaften mal in einem anderen System, mit anderen Mitspielern und unter einem anderen Trainer eingesetzt.

Nehmen wir Jonathan Tah oder Jeremie Frimpong, an denen einige Vereine dran sind, als Beispiele. Bei Leverkusen agierte der Innenverteidiger weitestgehend in einer Dreierkette, die DFB-Elf spielt mit vier Abwehrspielern. Der Niederländer lief bei Bayer meistens als alleiniger Schienenspieler auf, bei der Nationalmannschaft spielte er als Rechtsaußen vor der Viererkette. Solche Positions- bzw. Systemwechsel, in denen sich die Spieler einfinden müssen, geben Scouting-Abteilungen neue und teils wichtige Erkenntnisse. Was können wir vom Spieler bei uns erwarten? Das ist die Kernfrage, die sich ein Verein stellt.

Die großen Turniere sind auch deshalb spannend, weil man zudem sehen kann, wie Fußballer in Drucksituationen agieren. Ich fand die Partien in der Vorrunde teilweise extrem attraktiv, keine Frage. Aber durch den Fakt, dass auch die vier besten Gruppendritten ins Achtelfinale einziehen konnten, blieb der letzte Zugzwang in solchen Spielen aus. Ein Unentschieden war nicht so tragisch, das konnte man auch mal tolerieren. Das macht den Fußball leichter, die Profis konnten befreiter aufspielen.

Sobald jetzt die K.o.-Spiele kommen, ändert sich jede einzelne Facette des Spiels. Jeder Akteur überdenkt seine Entscheidungen anders. Jede Situation auf dem Platz wird noch mal anders abgewogen. Der Umgang, die damit verbundenen Entscheidungsfindungen und das Übernehmen von Verantwortung in solchen Partien machen große Spieler aus. Ab dem Achtelfinale wird jeder Fehler bestraft. Das sind die Momente, die man als Vereinsverantwortlicher eines Spitzenclubs am Ende genau beobachtet.

Man geht nicht ohne umfassende Vorinfos in so ein Turnier. Die EM kann aber weitere Eindrücke liefern. Seine Pläne schmeißt man aber nicht kopflos über den Haufen.
AUFGEZEICHNET VON: PK

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