Stadion und Tempel: Hier laufen Fans zur Bestform auf. Auch bei den Länderspielen.
Noch einmal Bundestrainer: Rudi Völler 2001.
Der Dortmund-Moment für die Ewigkeit: Oliver Neuville 2006 mit dem 1:0 gegen Polen. © IMAGO (3)
Dortmund – Das Achtelfinale zwischen Deutschland und Dänemark findet statt im „BVB Stadion Dortmund“. So hat es die UEFA benannt, und das hören die Fans schon mal lieber als „Signal Iduna Park“. Im Sprachgebrauch des Ruhrgebiets kommt diese Versponserung aber ohnehin nicht vor, man spricht vom „Westfalenstadion“. Jeder weiß, was gemeint ist, hat ein klares Bild vor Augen, und den ganzen Körper durchfließt ein Gefühl. Und jetzt wieder die Erwartung auf einen großen, einen speziellen Fußballabend. „Es gab nie den Hauch einer Diskussion, darüber zu spekulieren, ob wir Gruppenerster oder -zweiter werden wollen“, sagt DFB-Sportdirektor Rudi Völler, „das Ziel war immer der Gruppensieg, um in Dortmund zu spielen und die Atmosphäre mitzunehmen. Das ist es, was uns trägt.“ Ein Stadion als Star, als Symbol, als Programm.
Es gibt Länder, die Nationalstadien haben, England mit Wembley etwa, Frankreich mit St. Denis, Österreich mit dem Ernst-Happel-Stadion im Wiener Prater. Deutschland hat kein Nationalstadion – aber eines, das es am liebsten bespielt, wenn es glaubt, der Schubkraft von den Rängen zu bedürfen. Rudi Völler spricht von der „Kraft des Stadions“ – und er verspürt sie in Dortmund.
Er selbst hat sie zweimal erfahren: Im Spätherbst des Jahres 2001 musste der DFB erstmals eine WM-Relegation spielen, er hatte sich nicht direkt fürs Endturnier qualifiziert. Der Teamchef Völler stand davor, als Gescheiterter in die deutsche Fußballgeschichte einzugehen. Nach einem schwer erarbeiteten 1:1 in Kiew fand das Rückspiel gegen die Ukraine in Dortmund statt. Es wurde 4:1 gewonnen, es war ein Fest. „Die schwerste Prüfung für mich als Trainer“, erklärte Völler im Rückblick. Von da an war das Westfalenstadion das „Wohnzimmer der Nationalmannschaft“, obwohl es auch nur im Schnitt alle drei Jahre ein Länderspiel bekommt.
Deutschland – Frankreich am 12. September 2023 war nach Dortmund vergeben worden. Ein Zufall, aber ein glücklicher, dass es das war, in dem Rudi Völler nach der kurzfristigen Trennung von Hansi Flick noch einmal als Trainer einsprang. Die deutsche Elf siegte 2:1, es schalteten auf einmal auch ein paar Millionen mehr den Fernseher ein. Die gewünschte EM-Aufbruchstimmung war da. Und weil nun auch ein EM-Spiel mit Deutschland ansteht, rufen viele ihre Dortmund-Erinnerung an die WM 2006 ab. Das Anrennen gegen Polen im Gruppenspiel, das späte Happy-End, das 1:0, Oliver Neuville auf Vorlage von David Odonkor. Dass sich auch die 0:2-Halbfinalniederlage gegen Italien kurz darauf in Dortmund ereignete und sich vom Westfalenstadion aus für zwei Tage eine melancholische Schwere übers Land legte, verdrängt man.
Dass das Westfalenstadion als mythischer Ort wahrgenommen wird, begründet sich nicht im internationalen, sondern im Vereinsfußball. Borussia Dortmund zog in das zur WM 1974 erbaute Stadion ein, die alte Kampfbahn Rote Erde liegt direkt daneben. Mit dem Aufschwung des BVB gewann auch das Stadion an Reputation. Es wurde ausgebaut, es wuchs zum Tempel, eckig, mit den markanten gelben Trägern, es ragt über die Stadt hinaus, abends, wenn es leuchtet, schafft es Andacht. Viele kommen zu Fuß, vom Hauptbahnhof sind es vier Kilometer. Ein Pilgerweg. Das Stadion ist kein Satellit im Orbit des Großraums, es gehört zur Stadt. Westfalenpark, Westfalenhalle und eine Schrebergartenanlage gehören zum Ensemble.
Berühmt ist die Südtribüne. 25 000 Stehplätze, die Gelbe Wand. Der Soundtrack, der gespielt wird, ist das von Liverpool übernommene „You’ll Never Walk Alone“. Zu den BVB-Heimspielen fliegen immer Hunderte Engländer ein. Sie finden in Dortmund das in der Premier League verlorene Erlebnis des alten Fußballs mit günstigen (Bier-)Preisen und Steher-Kultur.
Das alles gibt es bei Länder- und WM/EM-Spielen nicht. Die Kapazität sinkt von über 80000 auf 66000, die Einbuße geht darauf zurück, dass auf die Süd Sitzschalen montiert werden (müssen). „Dennoch ist es das größte und das stimmungsstärkste Stadion, das wir haben“, sagt Nico Schlotterbeck, der für den BVB aufläuft. Seine These ist, dass dieser Ort das Beste an seinen Besuchern hervorruft. „Auch Türken und Albaner haben hier Alarm gemacht“, bezieht er sich auf die stimmungsvollen Spiele der Vorrunde.
Das DFB-Team spielte bei der EM in München, Stuttgart und Frankfurt. Man spricht von Euphorie im Lande, und wahrscheinlich war sie auf den Fan-Meilen greifbarer als in den Stadien. Die Unterstützer aus Schottland, der Schweiz und Ungarn waren über weite Strecken lauter als die deutschen.
Dortmund soll das ändern und die Mannschaft Richtung Viertelfinale schieben. Der Dortmunder Natonalspieler Niclas Füllkrug sagt: „Wir müssen aus der Gelben Wand eine Weiße Wand machen.“ GÜNTER KLEIN