Mann des Abends: Ruben Vargas lässt Schweizer Träume leben. © IMAGO
Berlin – Man hat auch schon andere Bilder von Ruben Vargas gesehen – und er selbst erinnert sich noch gut. Keine drei Jahre ist es her, als der Augsburger im Schweizer Trikot nicht der Held, sondern die tragische Figur seiner Nation war. Die Szenen, in denen Vargas nach seinem entscheidenden Fehlschuss im EM-Viertelfinale gegen Spanien von Thiago getröstet wurde, gingen unter dem Stichwort „Fairplay“ um die Welt. Deutlich schöner waren für den Protagonisten aber nun die Aufnahmen, die am Samstagabend aus Berlin verbreitet wurden. Vargas strahlend, Vargas mit einem großen Silberpokal, Vargas als „Man of the match“. Oder anders gesagt: Der Beste in einem bärenstarken Schweizer Team, das nach dem 2:0 (1:0) gegen Titelverteidiger Italien vollkommen verdient als erster Viertelfinalist feststand.
Er selbst, sagte Vargas, könne „kaum realisieren“, was ihm als erster Schweizer überhaupt gelungen war. Noch nie hat seit Beginn der Datenerfassung im Jahr 1996 ein Landsmann in einem K.o.-Spiel sowohl ein Tor erzielt als auch einen Treffer vorbereitet. Dabei hatte der 25-Jährige ja streng genommen nur artig auf seinen Kapitän Granit Xhaka gehört: „Granit sagte zu mir: ‚Ruben, bitte mach einfach ein Tor!‘ Zwei Minuten später habe ich den Ball und höre, wie er sagt, ich solle schießen. Dann ging alles so schnell.“ Das Ding war drin, wunderbar vom Strafraumeck in den Winkel (46.). Das 2:0 machte nach dem von Vargas vorbereiteten Treffer durch Remo Freuler (37.) alles klar. Von einer „Allstar-Performance“ schrieb die NZZ.
Vielleicht war es keine Überheblichkeit, dass Vargas schon vor dem Turnier in einem „Watson“-Interview angab: „Wenn ich 100 Euro auf einen EM-Sieger setzen müsste, würde ich auf die Schweiz setzen.“ Das Selbstvertrauen stimmt bei ihm, das Selbstvertrauen stimmt bei der ganzen Mannschaft. Und so konnte man sich noch nachts – übrigens beim typischen Berliner Döner am Team-Buffet – auf mindestens eine weitere EM-Woche einstellen. Am Samstag (18 Uhr) steht in Düsseldorf das Viertelfinale gegen England an, das sich in der Verlängerung glücklich gegen die Slowakei durchsetzte (2:1). Gelingt Vargas und Co. eine ähnliche Vorstellung wie gegen Italien, wird dort und womöglich auch danach alles möglich sein.
Das Team von Murat Yakin ist im Laufe des Turniers regelrecht in Fahrt gekommen – und lässt Kritiker nach und nach verstummen. Längst hört man in der Heimat keine Skepsis mehr gegenüber dem Trainer heraus, der nach einer wenig souveränen EM-Qualifikation angezählt war. Mit Blick auf die italienische Viererkette hat der Coach übrigens schon vor Anpfiff gewusst: „Die machen wir platt.“ Und er weiß auch, was Vargas ausspricht: „Wir haben schon oft in großen Turnieren und Spielen gezeigt, dass wir gegen die Besten bestehen können.“
Die DFB-Elf kann ein Lied davon singen, Italien nun auch – nun aber gilt es zu beweisen, dass man aus der Vergangenheit gelernt hat. Bei der WM scheiterte die Schweiz im Achtelfinale krachend an Portugal (1:6), auch das Viertelfinal-Aus von 2021 tat lange weh. Dafür, dass es aber eine Reifeprozess angestoßen hat, ist Vargas das beste Beispiel. Um den Fehlschuss zu verarbeiten, half ihm übrigens auch seine Kindheit, in der er immer ein Stückchen kleiner war als seine Teamkollegen. Er sagt: „Ich wusste schon früh, wie es ist, wenn es nicht läuft. Und dass es sich lohnt, dranzubleiben und niemals aufzugeben.“ HANNA RAIF