Offensichtlich unkaputtbar: Antonio Rüdiger. © IMAGO
Überglücklich: Bundestrainer Julian Nagelsmann. © Thissen/dpa
Dortmund – Die Schmerzensshow von Antonio Rüdiger war groß: Zweimal lag er zusammengekrümmt auf dem Rasen, die Gliedmaßen zappelten. Sodass man denken musste: Oh weh, die Zerrung, an der die ganze Woche gedoktert wurde, muss wieder aufgebrochen sein. Doch Rüdiger stand auf und spielte weiter. Den Schlussjubel absolvierte er in Bodenlage, als gälte es, ein Bild zu schaffen, das für diesen 2:0-Sieg im EM-Achtelfinale stand und für die Mentalität der deutschen Nationalmannschaft. Alles gegeben.
Die deutsche Elf hat das Ambiente von Dortmund aufgesogen. Sie hat die Körper ihrer Spieler sprechen lassen. Immer wieder war zu sehen: Rüdiger und sein Nebenmann in der Innenverteidigung, Nico Schlotterbeck, wie sie sich für ihre Grätschen und ihre Tacklings feierten, wie Manuel Neuer dazukam und Fäuste der Anerkennung aneinandergestoßen wurden. Oder wie Joshua Kimmich triumphbrüllte, dass ihm die Halsadern schwollen. Plus all das, was sonst noch war an diesem Abend im deutschen Fußball-Wohnzimmer Westfalenstadion: ein Gewitter, von dem man in den Rückschauen erzählen wird, weil es zu einer 25-minütigen Unterbrechung führte, ein Gefühls-Auf und Ab mit Schiedsrichter- und VAR-Entscheidungen. „Skurril“ nannte Bundestrainer Julian Nagelsmann das alles in seiner Zusammenfassung der Geschehnisse, die man unter den Schlagworten „Donnermärchen“ und „Emotionsgewitter“ führen wird.
Deutschland steht im Viertelfinale am Freitag (18 Uhr) in Stuttgart, das ist die Nachricht. So weit waren DFB-Vertretungen seit der EM 2016 nicht mehr gekommen. Diese Last hat der deutsche Fußball mit dem Positiv-Ergebnis und Erlebnis in Dortmund von seinen Schultern genommen. Oder wie Nagelsmann sagt: „Es wird Zeit, die Festplatte da oben zu löschen – und dass die Jungs erkennen, wie gut sie sind.“
Doch das ist die Frage, die sie in die nächste Runde begleiten wird: Was war Heimvorteil und das Surfen auf den Emotionen – und wie ist der Bestand an Klasse, die man auch einmal kühl ausspielen kann? Jamal Musiala empfand es als inspirierend, wie die Abwehrspieler sich für das Abwenden von Gegentorgefahren feierten, wie es Stürmer tun, wenn sie treffen. „Dieser Spirit ist super, den brauchen wir von unserem Centerback-Duo“, sagte der 21-Jährige, der das 2:0 erzielte (auf langen Pass des Defensivhelden Schlotterbeck hin) und das Spiel mit seinem dritten Turniertor entschied.
Vom Publikum wurde der junge Star nahezu messianisch gefeiert, obwohl sein Spiel in der Gesamtwertung medioker war, weil er sich gegen die ihn häufig doppelnden Dänen meist festdribbelte, mit einem Ballverlust einen gefährlichen Gegenstoß ermöglichte und vor dem aberkannten 0:1-Rückstand im eigenen Strafraum irrlichterte. Doch das Fan-Urteil klammerte die Unzulänglichkeiten aus. In den Annalen wird stehen, dass der Abend einen hohen Erlebniswert hatte. Und er abermals die Geschichte des großen Zusammenhalts im Team erzählte. Als Kai Havertz zum Strafstoß antrat, umschlangen sich alle Ersatzspieler. „Das war ganz spontan“ so Niclas Füllkrug.
Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings, dass die deutsche Elf schwer damit klarkommt, wenn das Konzept, den Gegner zu überrennen und niederzupowern, nicht sofort aufgeht. Das Achtelfinale gegen die Dänen bekam eine gefährliche Schlagseite, als diese sich eingestellt hatten und von den Spielanteilen immer mehr aufschlossen. Trotz des exzellenten Besetzung mit den Strategen Kroos und Gündogan hatte Deutschland nicht die komplette Mittelfeldkontrolle.
Und vorne: Chancenwucher. „Du darfst nicht so viel liegen lassen“, kritisierte Rüdiger, ließ an einem stimmungsvollen Abend aber Milde walten: „Man muss diese Chancen ja auch kreieren.“ GÜNTER KLEIN