Hier schaut der Ex-Präsident die EM

von Redaktion

Sepp Blatter über EURO, Katar-WM und das anstehende Duell Deutschland – Spanien

Spanien ist sein Titelfavorit: Blatter (88). © IMAGO

Ex-FIFA-Boss Sepp Blatter verfolgt in seinem Wohnzimmer in Zürich das EM-Turnier in Deutschland. © Privat

Der Fußball spielt noch immer eine zentrale Rolle in seinem Leben. Sepp Blatter (88) verfolgt die aktuelle Europameisterschaft meist in seinem Wohnzimmer in Zürich. Der langjährige FIFA-Präsident (1998 bis 2016) traut seinen Schweizer Landsleuten beim Turnier in Deutschland viel zu. Sein großer Favorit ist allerdings Spanien. Im großen Interview spricht Blatter über das vorgezogene Endspiel der Furia Roja gegen den EM-Gastgeber am Freitag (18 Uhr) in Stuttgart, die Kritik an der EURO und Weltmeisterschaften.

Herr Blatter, wie und wo verfolgen Sie die Europameisterschaft?

In der Regel zu Hause in meinem Wohnzimmer. Ich habe einen großen 3D-Bildschirm. Da spürt man schon fast die Stadionatmosphäre.

Die Schweiz hatte Deutschland im letzten Gruppenspiel am Rande einer Niederlage. Hat Sie das überrascht?

Aufgrund der Spielentwicklung hat es mich nicht überrascht. Trainer Murat Yakin hatte in diesem Turnier bis jetzt ein hervorragendes Gespür für das richtige Coaching und die Zusammensetzung der Mannschaft. Außerdem setzt Kapitän Granit Xhaka seine starken Leistungen aus Leverkusen nahtlos fort. Er ist der unbestrittene Schlüsselspieler dieser Mannschaft. Trotzdem wäre es für die Schweiz ein historisches Ereignis gewesen, wenn sie Deutschland an einer Endrunde besiegt hätte. Das geschah letztes Mal 1938.

Dafür hat die Schweiz den amtierenden Europameister Italien im Achtelfinale dominiert. Was trauen Sie der Nati bei diesem Turnier zu?

Wer gegen Deutschland so gut aussieht und Italien derart dominiert, wie beim 2:0 im Achtelfinale, kann auch bis ins Endspiel kommen. Die Leistung gegen Italien war mit das Beste, das ich bisher von einer Schweizer Mannschaft gesehen habe. England muss sich steigern, wenn es gegen die Schweiz bestehen will. Aber ich mahne zur Vorsicht: England hat mit Bellingham, Kane, Foden, Saka einige Ausnahmespieler – und der Sieg gegen die Slowakei könnte ein Befreiungsschlag gewesen sein. Schließlich war der Favorit faktisch bereits ausgeschieden.

Und wie stark schätzen Sie die DFB-Elf ein?

Nach allen Voraussagen müsste Deutschland das Turnier gewinnen. Aber der Druck ist immens. Gegen Dänemark lieferte die Mannschaft keine überzeugende Leistung. Dass die Dänen mit dem VAR haderten, kann ich nachvollziehen. Grundsätzlich muss über die technische Überwachung des Spiels nochmals nachgedacht werden. Wenn ich höre, dass in jedem Stadion 32 Hochleistungskameras installiert werden, scheint mir dieser Aufwand unverhältnismäßig – umso mehr, als dies nur bei den großen Turnieren möglich ist.

Wer ist dann aus Ihrer Sicht der Favorit auf den EM-Titel?

Für mich bleibt es Spanien. Vom Spielermaterial her könnte es aber auch Frankreich sein. So oder so: Beim Viertelfinale zwischen Spanien und Deutschland erleben wir am kommenden Freitag quasi ein vorgezogenes Finale.

Wie erleben Sie die Europameisterschaft bislang?

Ein großartiges Turnier, mit großartigen Fans – in einem Land, das den Fußball lebt und organisatorisches Know-how besitzt. Vor allem die Stimmung in den Stadien ist fantastisch, weil die Fans aus praktisch allen Ländern in großer Zahl anreisen. Dies ist zweifellos ein großer Unterschied zu den letzten WM- und EM-Turnieren.

Ein Reporter der „New York Times“ kritisierte Deutschland zuletzt dennoch stark. Die Vorwürfe: Probleme mit der Kontrolle der Zuschauer vor den Stadien, miserable Bedingungen auf dem Weg zu und von den Arenen, Bahnverkehr zusammengebrochen. Ist Deutschland ein guter Gastgeber?

Dies scheint mir eine gar negative Sicht der Dinge. Von zuhause aus, kann ich diese Einschätzung nicht bestätigen. Mein Gefühl ist, dass das Meiste gut läuft. Deutschland war bisher immer ein guter Gastgeber.

Die WM-Vergabe an Katar haben Sie nachträglich als Fehler bezeichnet. Warum und welchen Kontrast sehen Sie zum aktuellen Turnier in Deutschland?

Ich habe von einem Irrtum gesprochen – nicht von einem Fehler. Nachträglich aber kann man sagen: Katar hat die Aufgabe hervorragend gelöst. Und man weiß nun: Die WM funktioniert auch im Winter-Halbjahr und in einem kleinen Land – weil das Event so stark ist. Aber es ist auch klar: Deutschland ist eine Fußball-Großmacht, die alle Voraussetzung für eine perfekte Organisation mitbringt.

Welche Unterschiede nehmen Sie beispielsweise zur WM 2006 wahr, als Sie als FIFA-Präsident in leitender Funktion verantwortlich waren?

An die WM 2006 habe ich fast ausschließlich hervorragende Erinnerungen. Das Turnier war perfekt organisiert – mit großartigen Fans, einer starken Heimmannschaft und einer wunderbaren Atmosphäre. Wer eine WM auf derart hohem Niveau durchführen kann, ist auch für die EM gewappnet.

Welche Anforderungen gibt es heute im Vergleich zu früher?

Die Sicherheit ist oberstes Gebot. Vor allem in der heutigen Zeit muss man sich vor Terrorangriffen schützen. Außerdem sind die sozialkulturellen Ansprüche an den Gastgeber gestiegen. Deshalb setzte ich ein großes Fragezeichen hinter die Wahl von Saudi Arabien als WM-Organisator von 2034. Allerdings muss dieser Entscheid noch vom Kongress bestätigt werden.

Wie verändern sich solche großen Turniere im Laufe der Zeit?

Die Entwicklung des Fußballs auf der ganzen Welt garantiert attraktiven Sport. Man darf nicht vergessen, dass WM- und EM-Turniere eine noch größere globale Ausstrahlung besitzen als Olympische Spiele. Gleichzeitig spürt man aber auch, dass die lange Saison bei den Spielern Kräfte gekostet hat. Die Helden sind müde.

Es gibt Kritik, dass vor allem die Verbände, FIFA und UEFA, die großen Gewinner bei solchen Turnieren sind und nicht die Ausrichter. Wie stehen Sie dazu?

Das stimmt nicht. Die Veranstalter profitieren in jeder Beziehung davon – weil sie während Monaten das bestmögliche Schaufenster erhalten. Eine bessere Werbung für ein Land gib es nicht. Das spürt im Moment auch Deutschland.

INTERVIEW: PHILIPP KESSLER

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