Sommermärchen? Viel besser!

von Redaktion

Fanforscher Lange sieht „großes Fußballfest“ – mit Gästenationen, die uns immer mehr anstecken

„Party ist das neue Lagerfeuer“: sagt Lange. © IMAGO

„Importschlager“: Die Holland-Laune steckt an. © IMAGO

München – Donnerstag, 29. Juni 2006, ein Tag noch bis zum deutschen Viertelfinale bei der Heim-WM. Die Euphorie ist groß, die Fanmeilen voll, das nächste Public Viewing wartet –herrlich, so ein Sommermärchen, oder?

„Moment“, sagt Harald Lange, das kann man so jetzt nicht stehen lassen. Das Wort „Märchen“, das der renommierte Fanforscher übrigens „ziemlich verklärt“ findet, wurde erst „weit nach dem Ende des Heim-Turniers vor 18 Jahren kreiert“ und „hat durch Korruptionsvorwürfe auch eine negative Seite bekommen“. Warum, fragt sich der Experte schon lange, will man das Heim-Turnier 2024 also unbedingt mit damals vergleichen? „Der Begriff Sommermärchen lastet wie ein Schatten über der EURO. Das ist ein Zwangsmaßstab, der diesem Turnier nicht gerecht wird“, sagt Lange.

Auch an diesem Donnerstag steht man einen Tag vor dem deutschen Viertelfinale bei einem Heim-Turnier, wieder ist die Stimmung prächtig. Und trotzdem sieht Lange das „aktuelle Phänomen“ als „einzigartig und besonders“ an. „In einer ganz anderen gesellschaftlichen Grundsituation sehen wir ein tolles Fußballfest“, sagt der Professor für Sportwissenschaft, der an der Universität Würzburg praktiziert. Mit einem „Maßstab aus der Vergangenheit die Gegenwart zu beschreiben“, sei nie gewinnbringend: „Da kann man nur verlieren.“ Also was fällt heuer auf? „Dass die Stimmung, die Feierei, der Nationalstolz ganz klar ein Importschlager sind.“ Übersetzt: „Wir bieten eine perfekte Plattform – und profitieren massiv von der Stimmung der verschiedenen Gästenationen.“

Lange hat da natürlich die ausgeschiedenen Schotten im Kopf, dazu in Oranje getränkte Innenstädte, aber auch besonders emotionale Nationen wie Slowenien und Rumänien. Der Rausch, der Deutschland 2006 erfasst hat, „kam mehr aus der eigenen Fankultur und wurde von den deutschen Fans transportiert“. Damals war Public Viewing neu, heute beeindrucken die großen Fanmärsche zum Stadion. Die Gäste aus ganz Europa bringen Ihre Art des Fan-Seins ein, und man merkt laut Lange „von Spieltag zu Spieltag, dass die deutsche Bevölkerung mehr Leidenschaft und Hingabe zeigt“.

Lange freut sich über all das, was er sieht – aber er gibt zu: „Es überrascht mich auch.“ Vier Mal hat der 55-Jährige im Vorfeld der EURO die Stimmungslage der deutschen Bevölkerung abgefragt, noch vor den Testspielen im Frühjahr gegen Frankreich und Holland „waren die Werte im Keller“. Dass die sogenannten „Event-Fans“ aber trotz der dürftigen DFB-Vorbereitung gegen Griechenland und die Ukraine dabei geblieben sind – „und nun auch gegen die Schweiz mit dem deutschen Team richtig gelitten haben“ –, bestärkt Lange in der Hoffnung, „dass der Zuspruch nachhaltiger ist“. Der Experte spricht die harte Wahrheit aus: „Vor einem Jahr war die Fankultur am Boden. Jetzt steht das Land hinter der Mannschaft.“ Mit Blick auf „viele Jahre der Enttäuschung und Abwendung tut das richtig gut“.

Die Vorfreude dominiert auch, je näher das Viertelfinale rückt. Allerdings nicht wie früher, sondern auf die 2024er-Art. „Lagerfeuerromantik gibt es nicht mehr. Die Party ist das neue Lagerfeuer“, sagt Lange. Deutsche Spiele sind heute also „eine Gelegenheit, den Sommer, sich selbst und die Welt zu feiern“.

Dass Deutschland noch im Turnier ist, ist natürlich förderlich für alle. „So ist das Verlangen groß, sich dieser Party anzuschließen.“ Am besten noch eine weitere Woche. Ganz real, ohne Märchen. Schluss ist erst am 14. Juli. HANNA RAIF

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