Hat nicht gereicht: Julian Nagelsmann. © Schwarz/afp
Stuttgart – Kurz nach halb neun war es am Freitagabend, als in Stuttgart der Pfiff ertönte, der eine ganze Nation mitten ins Herz traf. Und die Frage nach dem Warum stellte sich unmittelbar nach Ende der Verlängerung dieses so, so bitten 1:2 (0:0/1:1) gegen Spanien im EM-Viertelfinale. Warum hatte Schiedsrichter Anthony Taylor nicht auf den Elfmeterpunkt gezeigt, als Marc Cucurella in der 106. Minute den Ball mit der Hand berührt hatte? Warum war die DFB-Elf nicht schon längst vom Punkt in Führung gegangen, als in der letzten Minute der Nachspielzeit der Ball von Mikel Merino im Netz zappelte? „Es fühlt sich sehr ungerecht an“, sagte Joshua Kimmich – und sprach rund 80 Millionen Menschen aus der Seele.
So sehr es alle schmerzte: Die Geschichte des Scheiterns an Spanien hat sich in Stuttgart fortgesetzt. Doch das Publikum war nicht gram, es feierte das Comeback und den deutschen Gesamtauftritt im Turnier. Ein schwacher Trost für diejenigen, die auf dem Feld den Sieg eigentlich verdient gehabt hätten. „Ich kämpfe mit den Tränen“, sagte Julian Nagelsmann sichtlich angefasst. Niklas Füllkrug fügte an: „Es ist vorbei und wird von Sekunde zu Sekunde schlimmer, das zu realisieren.“ Auch Thomas Müller wurde emotional und verabschiedete sich quasi: „Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass das mein letztes Länderspiel war.“
Sie blickten zurück auf 120 Minuten, in denen alles drin war. Erstmals hatte der in seiner Personalwahl berechenbare Nagelsmann eine Variante gewählt, die niemand außerhalb des inneren Zirkels auch nur erahnt hatte. Statt der festen Stammkraft Robert Andrich rückte Emre Can, der für die EM ja erst nachnominiert worden war, ins Team. Da zeigte sich der Laptop-Ansatz des Bundestrainers. Er fand in den Datenbanken schmeichelhafte Tempo-Werte für den Dortmunder: „Er kann 35 km/h laufen.“ Das erschien Nagelsmann für seine Zwecke – Fabian behüten und nach hinten Meter gutmachen – passend. Doch zu Begin der zweiten Hälfte korrigierte Nagelsmann sich – und neben Andrich für Can brachte er auch Florian Wirtz für Leroy Sané, den er zunächst bevorzugt hatte.
Los ging es mit ungewöhnlicher Härte, es waren die Deutschen, die sie ins Spiel trugen. Spaniens Trainer Luis de la Fuente wurde in den Anfangsminuten mehrmals beim vierten Offiziellen vorstellig; ihm erschien die Linie von Schiedsrichter Taylor zu großzügig (änderte sich später). Toni Kroos hatte Pedri, einen der Jungstars, in der 3. Minute über die Klinge springen lassen und kam ohne Gelbe Karte davon. Pedri humpelte noch ein wenig, doch schon in der 8. Minute war der Abend für ihn beendet, er musste verletzt runter. Der Leipziger Dani Olmo kam rein, er ist ein guter Ersatz. Zu sehen in der 13. Minute, als er durchstartete und kurz vor Erreichen des deutschen Strafraums von Antonio Rüdiger gefällt wurde. Das bedeutete: Gelb für den Abwehrspieler. Auch David Raum holte sich seine Verwarnung ab (28. Minute), die deutsche Defensive hatte ProblemeZugriff auf die Spanier zu bekommen.
Das Szenario Rückstand wurde in der 52. Minute zur Realität: Spaniens 16-jähriges Supertalent Lamine Yamal passte zu Dani Olmo, der ungestört schießen konnte, an Neuer vorbei flach ins Eck. Nagelsmann polierte die Brechstange, der Laptop- wurde zum Instinkttrainer, bereits in der 57. Minute lief Niclas Füllkrug, der Volkstribun, auf den Platz, auch der alte Müller kam zum Zug. Es musste einen Sturmlauf auf die eigene Fankurve geben. Momente der Annäherung waren: Andrichs Gewaltschuss, Füllkrug an den Pfosten (77.). Havertz‘ Heber (82.) und Kopfball (86.). Und schließlich: Flanke Mittelstädt (eingewechselt), Kopfball Kimmich, Abschluss Wirtz (eingewechselt). 1:1 in vorletzter Minute.
Verlängerung: Spanien hatte zur Sicherung des Vorsprungs den ersten Sturm mit den Flügeldribblern ausgewechselt – und Deutschland sein Momentum aufgebaut. Nach einem Handspiel von Cucurella (106.) hätte es Elfmeter geben können – müssen? – Schiedsrichter Taylor entschied sich dagegen.
„Der Schiedsrichter hat auch ein bisschen für Spanien gepfiffen“, kritisierte Nagelsmann bei MagentaTV. „Es wäre fußball-like, wenn man bewertet, ob der Ball in die Stuttgarter Altstadt fliegt – dann wäre es niemals Elfmeter.“ Wenn der Ball aber auf das Tor gehe, ergänzte Nagelsmann, „dann ist es klar Elfmeter“. In der 119. Minute passierte es: Flanke auf den Kopf von Merino, 2:1 für Spanien, fürs DFB-Team das Ende.
GÜNTER KLEIN