Der entscheidende Schuss: Joker Ollie Watkins mit dem späten Siegtreffer für England. © afp
Dortmund – Nach „einem der besten Abende seit 50 Jahren“ wähnten sich Englands Comeback-Könige dem EM-Gipfel ganz nah. Inmitten der nächtlichen Heimreise von Dortmund ins Trainingscamp nach Blankenhain schickte Kapitän Harry Kane per Handy etwas verwackelt ein paar Grüße in die ausgeflippte Heimat.
„Das ist besonders, besonders, besonders. Das bedeutet die Welt für uns. Lasst uns den letzten Schritt gehen. Auf geht‘s“, sagte Kane voller Stolz mit Blick auf das Finale gegen Spanien. 58 Jahre des sehnsüchtigen Wartens könnten am Sonntag (21.00 Uhr/ARD und MagentaTV) im Olympiastadion von Berlin enden. Die Devise für das Endspiel gegen den Favoriten gab der völlig gelöste Gareth Southgate, der von den tollen Nächten in Deutschland besonders schwärmte, noch im EM-Stadion von Dortmund aus. „One more! One more!“, rief der Trainer den rund 20.000 jubelnden Fans nach dem 2:1-Halbfinalsieg gegen die Niederlande lautstark zu. Noch ein Sieg. Zuvor hatte Southgate seine ganze Freude herausgebrüllt und spontan ein Tänzchen auf dem Rasen aufgeführt. Die Fans sangen schon beschwingt den Turnierklassiker „Three Lions“ mit der konkreten Aussicht, dass der Dauer-Slogan „It‘s coming home“ endlich wahr wird und die Leidenszeit endet.
„Eine verdammt harte Reise“
Schon der vorletzte Schritt zum ersten großen Titel seit dem WM-Triumph von 1966 war für England ein Stück weit historisch. Beobachtet von Pop-Stars wie Ed Sheeran und Adele erreichten die Three Lions erstmals in ihrer Geschichte ein großes Endspiel, das nicht auf der britischen Insel stattfindet.
„Das geschafft zu haben, macht mich wahnsinnig stolz“, sagte Chefcoach Southgate, der binnen weniger Momente vom Buhmann zum Helden wurde. Beim Krimi im Halbfinale wechselte er in Joker Ollie Watkins den späteren Siegtorschützen ein. Bayern-Star Kane, der dafür weichen musste, sagte: „Es war eine verdammt harte Reise. Wir hatten unsere Momente in diesem Turnier. Wenn wir die am Sonntag nochmal haben, sind wir am Ziel und Champions.“
Nicht die spielerische Klasse, sondern etwas Glück, ein Geniestreich von Jude Bellingham und viel Moral haben England ins Endspiel geführt. „Qualität ist die eine Sache, aber die anderen Attribute wie Charakter oder Mentalität kannst du im Training nicht lernen. Du bekommst sie aus Erfahrungen“, sagte Bellingham. Dabei war jedes K.-o.-Spiel auf seine Weise dramatisch, England holte dreimal in Serie nach einem 0:1-Rückstand auf. So etwas gab es bei Europameisterschaften zuvor noch nie.
Die ständigen Comebacks und drei mitreißende Duelle brachten auch den britischen König in Wallung. Charles III. gratulierte zwar unmittelbar zum Berlin-Ticket, knüpfte aber auch eine Bitte an seinen Glückwunsch. „Wenn ich euch ermutigen dürfte, den Sieg zu sichern, bevor Wundertore in letzter Minute oder ein weiteres Elfmeterdrama nötig würden“, sagte der König einer Mitteilung des Palastes zufolge. Dann würde „die Belastung für den kollektiven Puls und Blutdruck der Nation erheblich gemildert“. Der neue Premierminister Keir Starmer wird die Reise in die deutsche Hauptstadt antreten und am Sonntag live dabei sein. Bei seinem Antrittsbesuch im Weißen Haus scherzte er schon mit US-Präsident Joe Biden über den Erfolg der Three Lions. „Das liegt alles am neuen Premierminister“, sagte Biden. Starmer von der Labour-Partei hatte den Posten in der vergangenen Woche von seinem Vorgänger Rishi Sunak übernommen.
Neben Matchwinner Watkins („Das beste Gefühl aller Zeiten“) und Vorbereiter Cole Palmer wurde vor allem Southgate zu einem der englischen Gewinner dieses denkwürdigen Abends. Denn: Der 53 Jahre alte Ex-Profi hatte die beiden Joker eingewechselt und war damit ins Risiko gegangen, weil er Kapitän Kane erneut vorzeitig herausnahm. Doch das Risiko zahlte sich aus.
SID