Zurückhaltender Turnierdirektor: Lahm 2024. © IMAGO/Tilo Wiedensohler
Omnipräsenter Organisator: Beckenbauer 2006. © dpa/Peer Grimm
Der Beginn war in München. Mit der deutschen Mannschaft. Das Ende: Im Berliner Olympiastadion, ohne sie. Weltmeisterschaft 2006 und Europameisterschaft 2024 – sie waren ähnlich konstruiert. Und sonst? Wie schnitten die beiden großen Fußballturniere im Vergleich miteinander ab?
Atmosphäre: 2006 ging es viel bunter zu. Klar, denn 18 der 32 Teilnehmen kamen von außerhalb Europas. Deutschland erlebte die Exotik von Trinidad & Tobago, Togo, Angola, Australien, Paraguay und Costa Rica. Die EM 2024 war ein Nachbarschaftsturnier, für das sich – ausgenommen Luxemburg – alle deutschen Anrainerstaaten qualifizierten. 2006 gab es auch noch zwölf Städte, die bespielt wurden, nicht zehn. Damals bekamen Nürnberg, Kaiserslautern und Hannover vom Turnier was ab; nun ballte es sich mehr in Nordrhein-Westfalen. Allerdings: Mittlerweile gibt es in allen Städten mit EM-Stadion auch eine Fanzone. Vor 18 Jahren dominierte die Berliner Fanmeile am Brandenburger Tor, auf der bis zu einer Million Menschen Platz fand. Weitere „Public-Viewing“-Veranstaltungen waren Sachen der Kommunen, die Verbände mischten sich nicht ein. Zeitungen bekamen Leserpost, dass der Begriff „Public Viewing“ der angelsächsische Begriff für eine Leichenbeschau und daher für gemeinschaftliches Ansehen eines Fußballspiels im öffentlichen Raum unpassend sei. Mittlerweile schreibt deswegen niemand mehr.
Organisator: 2006 war das Turnier von Franz Beckenbauer, der als Verkehrsmittel den Helikopter wählte und zwischen Vor- und K.o.-Runde heiratete. Philipp Lahm, der Turnierdirektor 2024, fuhr mit der Bahn und hielt sich im Hintergrund. Er interpretierte seine Rolle einfach anders.
Wetter: 2024 hatte den niederschlagsreichsten Juni seit Jahren, in Dortmund kübelte es bei gleich drei Spielen von Vorrunde bis Halbfinale vom Dach auf die unteren Ränge. In der Erinnerung an 2006 dominiert das Kurze-Hosen-Wetter, beginnend mit dem Eröffnungsspiel. Erst auf das deutsche Halbfinal-Aus folgten zwei diesige Tage.
Politik & Weltenlage: Knapp fünf Jahre nach Nine-Eleven war die islamistische Bedrohung ein Thema der WM 2006, es wurden viele Kontrollen vorgenommen, an den Grenzen, vor den Stadien. Doch zwischen den 32 Nationen gab es keine politisch bedingten Konfliktsituationen. Die Ukraine erreichte 2006 das WM-Viertelfinale. Die EM 2024 fiel in die Zeit zweier naher Kriege in der Ukraine und in Nahost und eines an Zuspruch gewinnenden Rechtspopulismus in europäischen Ländern.
Fußballerische Qualität: Bei beiden Turnieren überschaubar. Erklärte Favoriten (Brasilien, Argentinien) blieben auf der Strecke, die großen Spielernamen enttäuschten. Zinedine Zidane wurde zum Ausklang seiner Karriere zwar zum besten Spieler der WM 2006 gewählt, doch er schwächte seine französische Mannschaft im Finale durch die Rote Karte für seinen Kopfstoß gegen den Italiener Materazzi. Bezeichnend, dass der italienische Verteidiger Fabio Cannavaro am Ende des Jahres als Weltfußballer ausgerufen wurde. Auch von 2024 werden wenige Spiele ob ihrer Klasse in Erinnerung bleiben, sondern vielmehr die zähen Partien favorisierter Teams. Gleichwohl: Es gab mit Spanien einen logischen und vorbehaltlos gefeierten Champion.
Schiedsrichter: Sie sind immer ein Streitpunkt. 2006 verstimmte die FIFA Spieler und Trainer mit neuen Regelauslegungen bei Grätschen und in Luftduellen. Rigoros wurden bei Spielverzögerungen Gelbe Karten gezeigt. 2024 mussten die Referees mit Verwarnungen vorgehen, falls sich ihnen ein anderer Spieler als der Kapitän näherte, um Erläuterung einer Entscheidung zu verlangen. Das Gesetz wider die Rudelbildung schluckten die Betroffenen noch, auf Unverständnis stießen Millimeter-Entscheidungen bei Abseits, die Auslegung, was ein strafbares Handspiel ist und die Berücksichtigung von Daten, die ein Chip im Ball sendet. Technische Hilfsmittel wurden 2006 nicht angewendet, es gab noch nicht einmal das Freistoßspray.
Deutsche Mannschaft: Sie kam sowohl 2006 als auch 2024 aus einem strukturell bedingten Leistungstief, mit einem tollen Turnier wurde wenige Monate zuvor nicht gerechnet. Dennoch begeisterten die Teams beider Jahrgänge. Allerdings: 2006 war die Mannschaft jünger, ihr Anker Michael Ballack stand mit 29 vor dem internationalen Teil seiner Karriere, Spieler wie Lahm, Podolski, Schweinsteiger, Mertesacker bestritten das zweite oder erste Turnier. Mit Miroslav Klose gab es einen klassischen Torjäger. Und sie kam, trotz ihrer noch eingeschränkten spielerischen Mittel (da lag sie hinter der Auswahl von 2024), bis ins Halbfinale. Das Spiel um Platz drei (3:1 gegen Portugal) gab ihr die Möglichkeit, mit einem Sieg und einer Party mit den Fans aus dem Turnier zu gehen, 2024 war im Viertelfinale abrupt Schluss.
GÜNTER KLEIN