60 Jahre Schmerz

von Redaktion

Engländer reden sich ihren zweiten Platz schön – Alternativen zu Harry Kane

Neue Offensivkraft: Southgate mit Ollie Watkins. © AFP/SAMAD

Er wollte nicht mal hinschauen: Wieder musste Harry Kane an einer greifbar nahen Trophäe vorbeigehen. © AFP/ODD ANDERSEN

Berlin – Vor dem Finale lief „Three Lions“, das Lied für die englische Nationalmannschaft, es klingt noch immer frisch, es benötigt keinen Remix – doch da ist die eine Zeile, die einen stutzen lässt: „30 years of hurt“ – auf 30 Jahre des Schmerzes wird Bezug genommen, so lange währte die Titellosigkeit schon. Das war 1996, zur Europameisterschaft in England, und da es auch 2024 nichts geworden ist mit einem großen Erfolg, ergibt sich die nächste Gelegenheit nun erst bei der WM 2026. Dann werden weitere „30 years of hurt“ durchs Mutterland des Fußballs gezogen sein, insgesamt 60 Jahre Leid. Einige Fans aus England trugen beim EM-Finale in Berlin Shirts, auf denen das Ergebnis von 1966 verewigt ist: „Wembley, England – W. Germany 4:2“.

Gareth Southgate war am Scheitern von 1996 beteiligt, im Halbfinale gegen Deutschland hatte er im Elfmeterschießen den entscheidenden Aussetzer. „Danach war ich in Deutschland einer der bekanntesten Engländer“, versuchte er auch bei der EM 2024 die Vergangenheit mit Selbstironie zu bewältigen. Seit 2016 ist Southgate Nationaltrainer – und die Bilanz eine deutlich bessere als unter seinen Vorgängern, zu denen auch Ausländer wie der Italiener Fabio Cappello und der Schwede Sven-Göran Eriksson zählten. 2018 wurde England WM-Vierter, 2021 und 24 stand es im EM-Finale. An diese Bilanz aus drei von vier Turnieren klammert Southgate sich. Habe keiner bislang geschafft, „dass wir zweimal nacheinander ein Finale erreicht haben und zum ersten Mal eines außerhalb von England“. Stimmt – und dennoch klang es, als würde der Chefcoach sich das Turnier in Deutschland mit einer zähen Vorrunde und vielen Momenten nahe am K.o. schönreden. Insgesamt spielte die Mannschaft unter den Möglichkeiten, die die Einzelteile des Kaders ihr gegeben hätten.

„Wir haben junge Spieler, die auch in zwei, vier, sechs, acht Jahren noch dabei sein können“, sagt Gareth Southgate. Michael Owen, der 1998 eines der spektakulärsten Tore der WM-Geschichte erzielte, von der speziellen englischen Fußballgeschichte aber wie Gary Lineker, Paul Gascoigne, David Beckham oder Wayne Rooney zu Verlierern gemacht wurde, schrieb auf der Plattform X nahezu flehentlich: „Wir klopfen weiter an die Tür. Und bald gewinnen wir.“ Ist das nur aufgesetzter Optimismus? Oder steckt in den „Three Lions“, die bei den Wettbüros Favorit gewesen waren, wirklich das Potenzial für eine Nummer eins? Southgate sah diesmal unglückliche Umstände den Ambitionen und Chancen entgegenwirken: „Viele Spieler, darunter die gesamte Abwehr, waren vor der EM verletzt. Dann mussten wir in einige Verlängerungen und hatten vor dem Finale einen Tag weniger zur Erholung als der Gegner. Wir wollten auch Jude Bellingham rausnehmen, er hatte Krämpfe.“ Doch der Real-Madrid-Star musste durchspielen – und England war zu platt, um gegen Spanien zu eigenen längeren Ballbesitzpassagen zu kommen.

Bei Harry Kane war nach einer Stunde Schluss. Obwohl er geteilter Torschützenkönig wurde mit drei Treffern, war es ein weiteres trauriges Turnier für den Kapitän und FC-Bayern-Stürmer. Dabei hatte er „in jedem Stadion, in jedem Hotel Sympathie verspürt“ und aus München hatten ihn „von Mitspielern und aus dem Staff“ Titelwünsche erreicht. Southgate sagte: „Es lastete viel Druck auf seinen Schultern.“ Er fand andere Spieler, Watkins und Palmer, beide trafen als Joker – Kane bekommt interne Konkurrenz. Ob Southgate bleibt, ist unklar. „Ich muss Gespräche hinter den Kulissen führen.“ Nach eight years of hurt.
GÜNTER KLEIN

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