Das ausgewählte Pferd wollte nicht vorwärts, Raisner gab ihm einen Klaps. © dpa
Verständliche Tränen: Fünfkämpferin Annika Zillekens, damals noch Schleu, lag 2021 in Tokio auf Goldkurs, dann bockte ihr Pferd – links Bundestrainerin Kim Raisner. © dpa/Murat
Die Bilder gingen um die Welt. Die Moderne Fünfkämpferin Annika Zillekens, damals noch Annika Schleu, lag bei den Olympischen Spielen von Tokio auf Medaillenkurs, doch beim Reiten verweigerte das ihr zugeloste Pferd „Saint Boy“ mehrmals. Schleu benutzte mehrere Male die Gerte. Bundestrainerin Kim Raisner rief „Hau noch mal drauf“ und setzte es selbst um, dafür wurde sie von den Tokio-Spielen ausgeschlossen. Vor Paris spricht Raisner nun mit unserer Zeitung darüber, welche Auswirkungen der Vorfall auf sie und Zillekens hatte, wie sie die Drucksituation erlebt hat und welche Maßnahmen für Paris ergriffen wurden.
Kim Raisner, mit welchen Gefühlen blicken Sie auf die Olympischen Spiele?
Ich sehe den Spielen mit Freude entgegen. Ich glaube, sie werden besonders und anders. Mit viel mehr Stimmung, auch im olympischen Dorf. Bei uns wird das Augenmerk von der Presse und einigen Social-Media-Leuten leider auf dem Reiten liegen. Es ist natürlich historisch, es ist das letzte Mal mit Reiten. Wir haben nur leider beim letzten Mal für die spektakulären Bilder gesorgt. Andere sind viel schlimmer geritten, finde ich. Es werden Fragen kommen, darauf versuchen wir uns vorzubereiten. Aber wir sehen das Ganze sportlich. Das Reiten zählt durch die Abwertung vom Fechten eine ganze Menge, ein Abwurf ist sehr teuer. Das Feld wird eng zusammen sein, man darf sich nirgendwo einen Fehler erlauben. Eine Prognose ist schwierig, Potenzial für ganz vorne haben unsere Athleten alle.
Sie haben Tokio angesprochen. Damals gab es eine weltweite Welle der Entrüstung. Hätten Sie damit jemals gerechnet?
Ehrlich gesagt: nein. Ich habe mir so was nie vorstellen können. Man hört von Sachen, wie z.B. von Schauspielern, die Internet-Mobbing erfahren haben. Wenn man das einmal erlebt hat, ändert man seine Meinung ganz schnell. Ich habe meine Meinung über Medien geändert. Ich bin sehr enttäuscht worden, wie wenig bei uns nachgefragt wurde. Da wurde dann schnell gesagt: Beim Abreiten hat es bestimmt auch schon nicht geklappt. Aber das stimmt einfach nicht, da lief es noch wie am Schnürchen. Als Annika in das Stadion kam war das Pferd wie ausgetauscht, es hatte ein Déja-vu. Es hat sich keiner angeschaut, was die Vorreiterin gemacht hat. Die Russin hat dem Pferd viel mehr im Maul gerissen und es eigentlich „kaputtgeritten“, aber darauf schaut keiner. Dass wir Fehler gemacht haben, keine Frage. Aber pauschal über Menschen zu urteilen, finde ich tragisch. Viele sind einfach auf den Zug aufgesprungen und wollten uns fertigmachen. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass es so schlimm wird. Ich kann alle Menschen verstehen, die wegen Hass aus den sozialen Medien psychische Probleme bekommen. Da muss viel mehr aufgeklärt werden. Ich finde es auch ein Unding von einer Tierschutzvereinigung, so was bis vor das Gericht gehen zu lassen. Man hat eine Debatte auf dem Rücken zweier Menschen ausgetragen. Wir haben auch eine Seele. Ich bin auch für Tierwohl, aber das sind für mich die falschen Mittel und Wege. Da werde ich nichts mehr hin spenden (lacht).
Die Situation ist innerhalb von Sekunden passiert, unter maximaler Anspannung. Hat das zu den Aktionen geführt, die gar nicht überlegt, sondern intuitiv waren?
Es ist ganz schwer zu sagen, wie man unter Druck reagiert. Ein Beispiel aus einem anderen Bereich, der NS-Zeit. Würde ich meinen Nachbarn oder Freund verraten? Nie im Leben. Würde ich meinen Nachbarn oder Freund verraten, wenn meine Mutter danebensteht und erschossen werden soll? Im Nachhinein kann man immer leicht urteilen. Wenn man selbst in der Situation steckt und ums Überleben kämpft, sieht das ganz anders aus. Was ich damit sagen will: Von außen kann man immer leicht über Sachen reden. Diese Situation in Tokio kam so schnell und unerwartet. Was wäre passiert, wenn Annika aufgegeben hätte? Dann hätten die Leute geschrieben: Die verbraten unsere Steuergelder und probieren es nicht mal. Ich sehe von der Couch aus auch, wo der Nationalspieler den Ball hin spielen muss. Als Spieler im Spiel selbst ist das nicht so einfach, wie es von außen aussieht, der Blickwinkel ist ein anderer.
Annika Zillekens (damals noch Schleu, d, Red.) war auf Medaillenkurs. Sie hat vermutlich so lange wie möglich versucht, diesen Traum nicht platzen zu lassen.
Annika hat schon in der Sportschule diesen Sport betrieben. Sie investiert seit über 20 Jahren so viel in diesen Sport. Und dann bist du bei Olympia, kannst eine Medaille gewinnen, das schmeißt du nicht einfach so weg… Die Sportler richten ihr Leben darauf aus. Das war der Tag ihrer Tage, wer weiß, ob sie noch mal so fechten wird. Das schmeißt man nicht weg.
Ein Hauptkritikpunkt war auch, dass Sie „Hau noch mal drauf“ gerufen und das Pferd auf die Flanke geschlagen haben.
Geschlagen? Es war nicht regelkonform, das muss ich ganz ehrlich sagen. Das war ein Reflex, ich kann auch nicht mehr sagen, warum ich das gemacht habe. Aber das hat das Pferd nicht mal gemerkt. Es war der Hintern und kein Fausthieb. Zur Wortwahl, in der Situation sage ich doch nicht: Benutze doch bitte die Gerte, so wie es sich gehört. Nie im Leben. In so einer Situation gibt man einen Gertenhieb, das hat sie auf meine Anweisung getan. Aber das Pferd ist weiter rückwärtsgegangen. Danach habe ich auch nichts mehr gesagt, denn das bringt dann nichts mehr. Es wurden Sachen aus dem Zusammenhang gerissen und wir wurden zu Pferdeschlächtern gemacht. Die Leute sollen einfach mal in die Reitschulen gehen, da passieren noch viel schlimmere Sachen. Da ist das, was in Tokio passiert ist, gar nichts dagegen.
Wie hat Annika diese Situation verarbeitet?
In unserem Umfeld haben uns alle gut unterstützt. Das hilft schon mal sehr. Wir haben Psychologen bei uns, mit denen alles besprochen wurde. Aber der Wiedereinstieg war nicht einfach. Das erste Mal wieder bei einem Wettkampf war für Annika nicht einfach. Weil sie natürlich auch allen zeigen wollte: Ich kann es besser. In der Staffel hatte das Pferd dann einen kleinen Stopper nach einer Wendung, aber sie ist toll mit nur einem Abwurf durch den Parcours gekommen. Annika war danach trotzdem total fertig, weiß im Gesicht, hat fast geweint und gesagt: So wollte ich das nicht. Ihr Gefühl war sofort: Da war wieder was nicht gut. Das zeigt, dass diese Erfahrung von Tokio tief sitzt und was mit einem gemacht hat. Wenn so eine ähnliche Situation noch mal kommt, würde Annika wohl die Zügel hinschmeißen und rausreiten. Sie ist vorsichtig, was den Einsatz der Gerte und Sporen angeht. Obwohl das Hilfsmittel sind die in der Reiterei nun mal erlaubt sind. Deswegen ist man kein Pferdeschlächter, der Einsatz ist bei uns reglementiert. Dann müsste Reiten und Tierhaltung generell verboten werden. Wir halten ja auch Haustiere und essen Kühe etc.
Welche Maßnahmen wurden ergriffen, um das Reiten sicherer zu machen?
Der Parcours ist jetzt niedriger und nicht mehr so lang. Wir hoffen, dass die Pferde nicht so obersensibel sind. Aber die Pferde kommen wohl aus der Vielseitigkeit und sind verschiedene Reiter gewohnt. Der Weltverband hat sich Mühe gegeben, die Pferde so vorzubereiten, dass sie verschiedene Reiter tolerieren.
Nach Olympia wird das Reiten durch Obstacle Race ersetzt. Was bedeutet das für den Modernen Fünfkampf?
Es ist ein großer Einschnitt. Es gibt Kinder, die aufhören, weil sie die Sportart mit Reiten machen wollen. Es gibt aber auch Kinder, die anfangen, weil sie das Obstacle Race so toll finden. Es ist ansehnlich, recht flott, eine Ganzkörperbelastung. Wir sind motiviert, diesen Weg zu gehen. Für uns ist es wichtig, dass wir olympisch bleiben. Das ist unsere Zukunft.
INTERVIEW:
NICO-MARIUS SCHMITZ