Der Quali-Moment: Seitz (li.) und Kevric. © IMAGO
Helen Kevric: Die 16-Jährige ist die jüngste deutsche Teilnehmerin und eine große Hoffnung für die Zukunft. © IMAGO
Die Probe für den Ernstfall fand am Donnerstag statt. Als die deutschen Turnerinnen in der „Accor Arena“ im Pariser Stadtteil Bercy zum Podiumstraining antraten, war Helen Kevric exakt 16 Jahre, vier Monate und vier Tage jung. Aber Respekt vor den Aufgaben, die zwischen den Stufenbarren-Holmen, auf dem zehn Zentimeter schmalen Schwebebalken, auf der Bodenfläche und am Sprungtisch warten? Nein! Als „absolute Vorfreude“ beschreibt die jüngste deutsche Teilnehmerin ihre Gefühlslage. Auch wenn man es der Stuttgarterin nicht immer ansieht, wenn sie mit ernstem Blick ans Gerät geht: Sie brennt auf diesen ersten Auftritt auf der olympischen Bühne, der der Startschuss für eine große Karriere sein soll.
So oder so ähnlich wird auch Elisabeth Seitz die Personalie Kevric moderieren, wenn sie in der Qualifikation am Sonntag am ARD-Mikrofon steht. Die 30-Jährige wird diesen Job professionell erledigen, aber eigentlich war ihr Plan, an Kevric‘ Stelle zu stehen. Als „Generationenduell“ wurde der Zweikampf um den einzigen Quotenplatz bezeichnet, den der DTB neben den Einzelstarterinnen Pauline Schäfer-Betz und Sarah Voss bekommen hat. Am Ende jubelte Kevric, während Seitz trotz einer Weltklasse-Übung am Stufenbarren die Tränen kamen.
Aus der Traum für die „Grande Dame“ – Bühne frei für das Turn-Küken. „Sie hat genauso hart trainiert wie ich“, sagt Kevric im Gespräch mit unserer Zeitung. Aber sie spricht auch aus, was sie in gerade mal 16 Lebensjahren und einem Jahrzehnt als Leistungssportlerin gelernt hat: „Am Ende ist es Sport.“ Auch wenn es hart sei, könne sie „nichts an der Situation ändern. Da muss man auf sich selbst schauen.“ Ein, zwei Tage hat es nach dem Showdown in Rüsselsheim gedauert, ehe sich Kevric an den Beinamen „Olympia-Starterin“ gewöhnt hatte. Seitdem aber ist es einfach „ein cooles Gefühl“.
Seit Jahren wird im Verband auf den Moment gewartet, an dem Kevric offiziell Seniorin wird. Denn dass die Tochter des ehemaligen Zweitliga-Fußballers Adnan Kevric (Stuttgarter Kickers) ein Ausnahmetalent ist, konnte man früh sehen. Kevric kommt aus einer echten Sportlerfamilie, auch ihr Opa war einst fast im Olympia-Kader, und sie beschreibt ihren Vorteil gegenüber anderen ganz simpel: „Ich bin im Mehrkampf gut und auch an jedem einzelnen Gerät.“ Mit der in der Quali erturnten Mehrkampf-Punktzahl von 55,532 Punkten wäre sie bei der Vorjahres-WM Vierte gewesen, die 14,8 Punkte am Stufenbarren waren ein weiteres Ausrufezeichen. Sogar Seitz, Europameisterin von 2022, hatte „nur“ 14,6 Punkte erhalten und musste sich trotz hartem Kampf um das Ticket geschlagen geben. Kevric: „Ich habe mehr Finalchancen als andere.“
Natürlich denkt auch sie darüber nach, was passieren könnte, wenn alles optimal läuft. „Unmöglich ist nichts“, sagt sie, gibt aber auch zu: „Die große Bühne ist neu für mich.“ Was sie weiß, ist dass sie sich optimal vorbereitet hat. In der Schule hat Kevric mit Blick auf die Spiele ein Sabbatjahr eingelegt, dafür mit ihren Trainern Giacomo Camiciotti und Marie-Luise Mai (Randnotiz: Ehefrau von Seitz-Trainer Robert Mai) im Kunstturnforum Stuttgart hart geschuftet. „Meine Trainer müssen manchmal Überstunden machen“, sagt sie lachend. Ihr Credo: „Wenn etwas nicht geklappt hat, mache ich es nochmal.“ Dass es derzeit keine Hausaufgaben zu erledigen gibt, passt da ganz gut. Nur ihre Freundinnen vermisst Kevric. Sie werden von daheim aus mitfiebern, während Mama und Papa Kevric mit im Paris sind. „Enormen Rückhalt“ spürt Tochter Helen, die „den Traum der ganzen Familie lebt“.
An diesem Samstag, wenn es wirklich ernst wird, startet die deutsche Riege zeitgleich mit den US-Damen um Superstar Simone Biles. Auf die Frage, ob sie die deutsche Simone Biles sei, entgegnet Kevric bestimmt: „Nein!“ Der Zusatz „noch lange nicht“ bietet Raum für Interpretationen. Vor allem, wenn man 16 Jahre, vier Monate und dann fünf Tage alt ist.
HANNA RAIF