Bittere Erinnerungen: Vize-Europameister Kane. Exakt 24 Tage hatte er Zeit, diesen Moment zu verdauen. © IMAGO
München – Einen Tag Pause haben die letzten beiden Fehlenden noch bekommen, aber im zweiten Training auf Münchner Boden wird an der Säbener Straße eine neue Zeitrechnung beginnen. An diesem Mittwoch wird der aktuelle Kader des FC Bayern mit Ausnahme von Olympia-Fahrer Michael Olise nach der Rückkehr von Alphonso Davies und Harry Kane komplett sein. Und besonders für den Superstar unter den Profis von Trainer Vincent Kompany heißt es dann: Neuer Anlauf, neues Glück. Kane startet in seine 14. Saison als Profi-Fußballer – und will endlich diesen verflixten ersten Titel. Der Fluch, der über ihm hängt, belastet ihn mehr und mehr.
„Die Enttäuschung über das verlorene EM-Finale hat bei Harry überwogen“, hatte Max Eberl in Seoul gesagt und einen kleinen Einblick in das Seelenleben des 31 Jahre alten Stürmers gegeben. 24 Tage Pause hat er nach dem zweiten verlorenen EM-Finale seiner Karriere bekommen, etwas mehr als drei Wochen also, um den geschundenen Körper und die angeknackste Seele wieder auf Normalzustand zu bringen. „Gut“ habe es Kane getan, führte Bayerns Sportvorstand aus, „nach der extrem langen Saison, die nicht einfach war, mal mit der Familie im Urlaub auszuspannen“. Fußball höchstens als Daddy am Strand, während der Rest sich an der Säbener Straße, am Tegernsee und in Seoul sportlich und marketingtechnisch verausgabte. Wenn Kane heute dazustößt, gilt immerhin, was Eberl versicherte: „Er ist gesund.“
Der 50-Jährige sprach damit den Körper an – konkret: den Rücken und die vielen Wehwehchen, die Kane schon am Ende der titellosen Vorsaison ausgebremst hatten. Dazu passt auch das Vorhaben, dass er bereits beim Testspiel gegen seinen Herzensclub Tottenham Hotspur am Samstag (18.30 Uhr) dabei sein soll. Er wird Schlag auf Schlag gehen, viel Zeit zum Nachdenken wird bis zum Erstrunden-Spiel im DFB-Pokal am 16. August und dem Liga-Start am 25. August nicht bleiben. Es wird darum gehen, die bestmöglichen Voraussetzungen zu schaffen, damit die zweite Saison im roten Trikot eine bessere wird.
Sportpsychologe Matthias Herzog weiß, wie wichtig der Kopf für den Erfolg ist. Und im konkreten Fall von Kane schlägt der Experte einen Sechs-Punkte-Plan vor. „Die Auszeit“, sagt Herzog, „kann Kane helfen, die EM-Enttäuschung zu überwinden und bei Bayern München wieder voll durchzustarten“. Dafür allerdings sollte der England-Kapitän auch nach seiner Rückkehr mental arbeiten. „Es könnte hilfreich sein, wenn Kane regelmäßige Sitzungen mit einem Sportpsychologen führt“. Strategien zu entwickeln, „um ähnliche Situationen in der Zukunft besser zu bewältigen“ wäre ein Schritt, der neben der physischen Vorbereitung hilfreich ist. Dazu „ein individuell angepasstes Trainingsprogramm, das ihm hilft, in Topform zu kommen“.
Ein „Gefühl der Stärke“ könnte so entstehen, auch die „Kommunikation mit dem Trainerstab und den Teamkollegen“ sieht Herzog aber als „entscheidend“ an. Der Motivationsexperte sagt: „Es ist wichtig, dass Kane sich unterstützt fühlt.“ Der persönliche Titelfluch wird so also zur Mannschaftsmission, während Kane sich persönlich laut Herzog erstmal „kleine Ziele setzen“ sollte. Das könne „den Druck verringern und ihm ermöglichen, schrittweise Vertrauen aufzubauen“. Am besten gelingt das in einem „positiven Umfeld“, das laut Herzog unbedingt gefördert werden soll. Er spricht von „starkem Teamgeist“ und dem „Vermeiden von negativen Einflüssen, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Spielfelds“.
Die gute Nachricht: Einen Motivationsschub gibt es gleich zum Start in die Saison. Weil Kane sich die Torjägerkanone im Mai nicht persönlich abholen konnte, wird die Ehrung noch nachgeholt.
HANNA RAIF, PHILIPP KESSLER