Die Tormaschine, nicht aufzuhalten: Renars Uscins lieferte ein großes Spiel. © AFP/THOMAS COEX
Und alle Last fällt ab: Das deutsche Team feiert den Einzug ins Halbfinale. © AFP/FRANCOIS LO PRESTI
Deutschlands „phänomenale“ Handballer sprangen ausgelassen im Kreis, völlig aufgekratzt von diesem filmreifen Drama mit unzähligen Wendungen, sie sprachen von „Wahnsinn“ und feierten den herausragenden Matchwinner Renars Uscins. 27000 Zuschauer, unter ihnen IOC-Präsident Thomas Bach, sahen dabei zu, die meisten schwiegen, enttäuscht, entgeistert, völlig überrumpelt.
Mit einer heldenhaften Leistung hatte das Team von Bundestrainer Alfred Gislason soeben Frankreichs Handball-Party im Viertelfinale abrupt beendet. Angeführt von Siegtorschütze Uscins gewann Deutschland gegen den Tokio-Olympiasieger und Europameister 35:34 (29:29, 14:17) nach Verlängerung, steht nun erstmals seit dem Bronze-Coup von 2016 wieder in einem olympischen Halbfinale. Nach einem an Dramatik kaum zu überbietendem Thriller greift die DHB-Auswahl am Freitag gegen Spanien nach der ersehnten Medaille.
„Phänomenal“ habe seine Mannschaft gespielt, sagte Gislason, „Wahnsinn“ sei dieses Spiel gewesen, sagte Rune Dahmke: „Das war so ein Hin und Her, ich glaube beide Seiten hatten zwischendurch schon dreimal aufgegeben und wieder dran geglaubt. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wie das am Ende passiert ist.“
Passiert war Folgendes: Die junge DHB-Auswahl hatte den lange Zeit brodelnden Hexenkessel von Lille verstummen lassen. Die Fans im umgebauten Fußballstadion Stade Pierre-Mauroy sahen zunächst, wie Deutschland mit der Schlusssirene ausglich – und wie dann in der Verlängerung „Renars das Spiel für uns alleine gewann“, wie Dahmke schwärmte.
Vier Sekunden vor dem Ende traf der 22-Jährige mit seinem bereits 14. Tor entscheidend, Augenblicke später parierte David Späth ein letztes Mal großartig. „Wie aus dem Nichts“ schlugen die Würfe des Rückraumspielers immer wieder ein, so beschrieb es Gislason später. „Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte, dass ich auf einmal in so einen Flow gerate“, sagte Uscins: „Aber ich glaube, ich habe gefühlt alles vergessen drumherum, was passiert, was ist. Ich habe vergessen, wie wichtig die Würfe sind.“ Einfach, weil er „überzeugt davon war“, dass alle auf wundersame Weise schon reingehen. „Solche Tage hat man nicht immer. Das versuche ich jetzt einfach zu genießen“, sagte Uscins.
Aus einem ganz starken Team ragte auch Torhüter Späth mit seinen Paraden in entscheidenden Momenten heraus. Durch den glanzvollen Erfolg vermieste Deutschland zudem dem scheidenden Nikola Karabatic den Traum vom goldenen Karriereende, er wurde noch im Anschluss offiziell verabschiedet.
Während die DHB-Frauen nach einer Niederlage tags zuvor gegen Frankreich (23:26) die Segel streichen mussten, dürfen die Männer nach dem ersten Sieg gegen Frankreich in einem großen Turnier seit elf Jahren mehr denn je vom ersten Olympiasieg im Hallenhandball seit dem DDR-Erfolg von 1980 träumen.
Weil allerdings die Abwehr zu Beginn leichte Gegentore über den Kreis kassierte und Andreas Wolff keinen Ball zu fassen bekam, übernahm Frankreich zuerst das Kommando. Gislason justierte nach, brachte beim Stand von 7:9 nun Späth im Tor. Wirkung zeigte aber auch diese Maßnahme zunächst nicht. Zwar zeigte Späth direkt einige starke Paraden. Doch weil die deutschen Schützen schon in dieser Phase reihenweise am früheren Kieler Vincent Gerard im französischen Kasten scheiterten, enteilte Frankreich zwischenzeitlich bis auf 17:12. Die hitzige Atmosphäre von den Rängen übertrug sich auch aufs Parkett. Frankreichs Startspieler Dika Mem hatte Glück, als er nach einer Unsportlichkeit gegen Uscins nur eine Zeitstrafe bekam.
Doch auch vom Blitzstart der Franzosen in Durchgang zwei mit drei schnellen Treffern in Serie (14:20) ließ sich die DHB-Auswahl nicht beeindrucken. Es entwickelte sich eine dramatische Endphase, Frankreich führte sechs Sekunden vor Schluss bei eigenem Ballbesitz, doch Mem verlor den Ball – dann begann die Show von Uscins.
SID/DPA