„Fußball hat Fans, Olympia Zuschauer“

von Redaktion

Bilanz des Supersportjahrs nach den Events EM und Paris – Verzögerte TV-Bilder

Public Viewing beim Fußball: War auch 2024 zur EM wieder angesagt. Viele ausländische Gäste kamen ohne Stadionticket nach Deutschland, dabei waren sie trotzdem. © Christoph Soeder/dpa

Public Viewing bei Olympia: Das war neu, doch aufgrund des Zuschauerbooms, den die Spiele erlebten, notwendig. © AFP/Thibaud Moritz

Das Prinzip Erinnerung: Wenn Deutschland mal wieder auf Spanien trifft, wird man das EM-Viertelfinale aufwärmen. © dpa

München – Der österreichische Germanist Klaus Zeyringer (70) ist Experte für die Historie von Olympischen Spielen, zu seinen Werken gehört auch eine Kulturgeschichte des Fußballs. Kürzlich hat er mit dem Schriftsteller Ilija Trojanow das Buch „Fans. Von den Höhen und Tiefen sportlicher Leidenschaft“ (S. Fischer, 26 Euro) geschrieben. 2024 ist mit Fußball-EM und Olympischen Sommerspielen ein Supersportjahr – und nach Paris bietet sich die Gelegenheit, mit Klaus Zeyringer Bilanz zu ziehen.

Herr Zeyringer, in Ihrem Buch steht als Fazit der Corona-Zeit der Satz „Fehlen die Fans, fällt die Arena des Sports in sich zusammen“. 2024 ist das Jahr der Rekorde: Nationale Sportligen vermelden Topbesuch, bei der Fußball-EM waren die Stadien voll, bei den Olympischen Spielen wurden 13 Millionen Tickets verkauft, mehr denn je. Hat die Zeit des Geistersports uns neue Wertschätzung gelehrt?

Für eingefleischte Fans muss die Corona-Zeit ein sehr stark wahrgenommener Einschnitt gewesen sein, denn sie konnten das nicht machen, was zum Rhythmus ihres Lebens gehört und ein Ausgleich für alles andere, ein Ausweg ist. Das brauchen sie – und das unterscheidet sie von Zuschauern. Bei EM und Olympia kamen viele auch wegen des Events. Die EM wurde in Deutschland als mögliches neues Sommermärchen beworben. Und Olympia lebt vom Mythos, davon, dass es in einer bestimmten Stadt stattfindet, in die man gerne hinfährt. Nach Paris wollten viele immer schon mal.

Bei Olympia sind also weniger klassische Fans.

Ja, und das merkt man auch an den Bildern. Wenn man sich die Ränge ansieht, da ist viel weniger vom intensiven Fangebaren zu bemerken. Die Gesänge, Banner, Vereinsflaggen fehlen, sie werden durch die Nationalfahnen ersetzt. Die Regie des Fernsehens wird vom IOC kontrolliert, da war auffallend: Wenn eine Sportlerin die Arena betritt, was inszeniert wird wie der barocke Auftritt eines Ritters, wird sofort ins Publikum geschwenkt und werden Leute gezeigt, die diese Flagge hochhalten. Das zeigt: Olympia ist sehr stark auf die nationale Beteiligung der Zuschauer aus.

Ist der olympische Zuschauer so strukturiert, dass er mehr bereit ist, Leistung zu honorieren, als sich nur über die Nationalität zu identifizieren?

Das scheint mir auch ein Unterschied zum Fußball zu sein. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass beim Spiel der Spanier bei der EM Zuschauer schon bewundert haben, wie gut die technisch und taktisch eingestellt sind. Das wird es gegeben haben, aber sicher nicht in der hohen Anzahl wie bei Olympia. Beim Turnen wird man die Sprünge von Simon Biles bewundert haben, beim Schwimmen die Ausdauerleistung, bei vielen Sportarten die Körperbeherrschung …

Zur Fußball-EM reisten viele Menschen ohne Ticket an und ohne die Aussicht auf Teilhabe im Stadion. Ein neuer Trend?

Es hat etwas mit dem Fantum bei großen Idolen der Populärkultur zu tun. Dass man vor dem Hotel steht, in dem die Rolling Stones abgestiegen sind, ohne die Chance, sie zu sehen. Das ist ein alter Trend, der mit dem Aufkommen der Massenmedien zu tun hat. Es wird berichtet, dass um 1910, als Karl May in München abstieg, Mengen vor dem Hotel standen und als Fans auf ihn warteten. Bei der Fußball-EM 2024 haben manche vielleicht auch die Reise angetreten in der Hoffnung, auf dem Schwarzmarkt an ein Ticket zu kommen – oder um über das Public Viewing die Stimmung besser annehmen zu können als in weiterer Entfernung vom Spielort.

„Die Masse neigt zur Entladung“ steht in Ihrem Buch. Das galt sowohl im Positiven für Rituale wie die Fanmärsche als auch im Negativen. Empörte Deutsche begleiteten den Spanier Cucurella noch zwei Partien wegen seines Handspiels mit Pfiffen.

Der Satz ist im Übrigen Elias Canetti geschuldet, der das Buch über die Masse und die Macht schrieb – er wohnte in Wien unweit des Rapid-Platzes und hörte an Sonntagen durchs offene Fenster die Schreie und Chöre, was ihn inspiriert hat. Ja, die Masse neigt zur Entladung, besonders im Stadion, im Rund, das in sich geschlossen ist und ein Echo ergibt. Die Masse funktioniert anders, wenn sie an der Straße steht. Oder an einer Strecke, beim Rudern, Kanu, am Skikurs. Entladung kann der Jubel sein – oder Empörung, Trauer, Aggression. Eine EM ist ein Turnier, die Masse hat eine Erinnerung, da braucht nur einer zu pfeifen und alle machen mit, weil sie sich daran erinnern, dass der Spanier den Deutschen das Weiterkommen versaut hat.

Bei Olympia erlebten wir auch Empörung – aber mehr aus der Distanz. Über Szenen der Eröffnungsfeier oder die algerische Boxerin Imane Khelif. Vor Ort jedoch wurde sie gefeiert.

Was wir allerdings nicht wissen, ist, was das IOC nicht zeigt. Ich habe mir die Protokolle früherer Olympischer Spiele angesehen, da gab es Richtlinien für die Berichterstattung. In Tokio war es so, dass die Bilder ein paar Sekunden verzögert waren, damit der Regisseur eingreifen konnte. Beim Fußball ist es auch so, das merkt man daran, dass Bilder von Flitzern nicht gezeigt wurden. Es kann also sein, dass Empörung auf den Rängen zu bemerken ist, aber nicht im Fernsehbild. In Frankreich gab es ein Basketballspiel mit offensichtlichen Fehlentscheidungen gegen Deutschland, daran haben sich im Stadion sicher Leute gestört – im Fernsehbild war es nicht zu bemerken.

Die Deutschen begeisterten sich bei Olympia fürs 3×3-Basketball, obwohl kaum jemand mal ein Ligaspiel gesehen haben dürfte. Bestätigt sich hier Ihr Satz „Sport ist der kleinste Nenner einer Oberflächlichkeitskultur, die wenig Vorwissen verlangt und Spannung bietet“?

Das ist sicher so. Es ist einfach, man versteht es schnell, man kann darüber reden. Wobei in Deutschland der Erfolg durch die Goldmedaille der Frauen dazukommt. In Österreich habe ich niemanden getroffen, der das angeschaut hat. Da spielt der Nationalismus eine Rolle und die Auswahl durch die Fernsehanstalten. Ich habe zwischen österreichischem und deutschem Fernsehen hin- und hergezappt, da waren deutliche Unterschiede.

Sie zitieren den berühmten Linguisten Noam Chomsky, der sagte, im Sport würden Menschen über ein unfassbares Detailwissen verfügen – weit mehr als im Bereich Politik.

Weil es ein so wichtiger Teil des Lebens ist, funktioniert die Erinnerung so gut. Ich habe es in der Gelben Wand in Dortmund erlebt. Da wurde eine Stunde vor Anpfiff über frühere Derbys geredet, waren präzise historische Erinnerungen präsent, die sich aufgrund der Emotionalität eingebrannt haben.

Und aufgrund der Emotionalität sehen Fans auch über Missstände hinweg?

Ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland ist von sich der Meinung, Fan von irgendwas zu sein. Sie verzeihen dem Sportler und dem Sport alles und mögen die Hintergründe nicht sehen. Wie es im IOC zugeht oder in der FIFA oder wie viele gedopt haben. Ich habe bei der Tour de France beim Aufstieg nach L‘Alpe d‘Huez mit Leuten vieler Nationalitäten geredet – über Doping wollte niemand reden. Solange Fans nicht völlig abgestoßen sind, lassen sie sich ihren Sport und ihre Helden nicht schlecht reden.

Bei der diesjährigen Tour war ein Fan mit Plakat „Ulle war sauber“ zu sehen.

Das muss ironisch gemeint gewesen sein. Oder es war ein unbelehrbarer Fan, auch das gibt es. Nehmen wir den Fall Maradona. Der wurde vergöttert, er hätte machen können, was er wollte, ihm wurde von den Argentiniern alles verziehen.

Noch eine spezifische Deutschland-Frage: Kann man Fan von Bayer Leverkusen werden – nur aus der Erleichterung heraus, dass Bayern München einmal nicht Deutscher Fußball-Meister wurde?

Wir begreifen Fans als Leute, die einer Mannschaft lange anhängen. Es gibt das Phänomen des kurzfristigen Fans, das wäre dieser Fall. Das ist ein Ausflug, aber kein Fantum. Leverkusen wird Zulauf gehabt haben, aber der wird sich wieder abschwächen, wenn sie nicht Meister werden.


INTERVIEW: GÜNTER KLEIN

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