Frischgebackener Gewinner des Turniers in Cincinnati: Jannik Sinner. Doch hätte er antreten dürfen? © AFP/MATTHEW STOCKMAN
New York – Die Gazzetta dello Sport bringt es auf den Punkt. „Eine Nachricht, die die Erde beben ließ wie ein Vulkanausbruch“, schrieb die italienische Tageszeitung zum unter Dopingverdacht stehenden Tennisstar Jannik Sinner. Und nichts weniger ist der Fall des Weltranglisten-Ersten für das Millionengeschäft Tennis.
Auch wenn alle Beteiligten schnell bemüht waren, die Unschuld des 23-Jährigen zu beteuern, zu erklären und zu dokumentieren. Dass die Nummer eins der Welt überhaupt zwei positive Dopingproben abgegeben hat, trifft die Branche bis ins Mark.
Jannik Sinner und Carlos Alcaraz – dieses Duo soll die nächste Ära auf der ATP-Tour prägen. Beide jung, beide hochtalentiert, beide populär und beliebt. Der Übergang schien fließend zu verlaufen, der Boom im Tennis unaufhaltsam weiterzugehen. Dass Sinner im Januar in Melbourne seinen ersten Grand-Slam-Titel gewann, nachdem er Italien wenige Wochen zuvor bereits zum Davis-Cup-Triumph geführt hatte – es passte einfach alles für die Tennis-Macher.
Dass nun ausgerechnet eines der beiden Gesichter der neuen Tennis-Ära mit Doping in Verbindung gebracht wird, ist in der Tat ein Beben „wie ein Vulkanausbruch“ für die Tennis-Szene. Auch wenn Sinner erst einmal um eine Sperre herumkommt. Denn obwohl der Italiener, der gerade erst das Masters-1000-Turnier in Cincinnati gewonnen hat, im März zweimal positiv auf das verbotene anabole Steroid Clostebol getestet wurde, darf er bei den am Montag beginnenden US Open ganz normal an den Start gehen.
Nach Angaben der verantwortlichen Tennis-Agentur Itia ist Sinner am vergangenen Donnerstag von einem unabhängigen Gericht freigesprochen worden, da er das verbotene Mittel nicht vorsätzlich verwendet habe. Sinner erklärte in einem in den Sozialen Medien verbreiteten Statement, die Substanz sei über die Hände seines Physiotherapeuten in seinen Körper gelangt. Demnach habe der Betreuer ein in Italien rezeptfreies Clostebol-haltiges Spray benutzt, um einen Schnitt an seinem eigenen Finger zu behandeln.
Danach habe er Sinner massiert, was „zu einer unwissentlichen transdermalen Kontamination führte“. Der Itia zufolge hielten wissenschaftliche Sachverständige Sinners Erklärung für glaubwürdig. Deshalb habe die Tennis-Agentur auch davon abgesehen, den Italiener zumindest vorläufig zu suspendieren. Nach einer weiteren Untersuchung durch die Agentur änderte sich in der Sache nichts. Lediglich das Preisgeld und die Ranglisten-Punkte für den Halbfinal-Einzug beim ATP-Turnier in Indian Wells werden ihm aberkannt.
Eine milde Bestrafung, die Doping-Experte Fritz Sörgel scharf kritisiert. „Wenn jemand positiv auf Clostebol getestet wird, dann wird er automatisch gesperrt“, sagt Sörgel in einem Interview des Portals Sport1. „Die Reihenfolge nach einem positiven Test, der angezweifelt wird, ist der Gang zur Nationalen Anti-Doping Agentur, zur Wada, zum CAS. Wieso kann Sinner dann von einem Gericht freigesprochen werden?“, fragt Sörgel. „Das stinkt zum Himmel“, sagt der Doping-Experte. Clostebol führe automatisch zu einer zwei- bis vierjährigen Sperre. „Da führt kein Weg dran vorbei“, sagt Sörgel. Nun müsse die Wada intervenieren. Die will die Entscheidung zunächst „sorgfältig prüfen“.
Sinners Kollegen hielten sich mit Äußerungen zu dem Fall zunächst zurück. Abgesehen von Hinterbänklern wie dem Australier Nick Kyrgios oder dem Kanadier Denis Shapovalov gab es kaum Reaktionen. Das dürfte sich am Freitag ändern, wenn bei den US Open in New York der Medientag ansteht. Dann wird sich auch Sinner kritischen Fragen stellen müssen. Laut seines Trainers Darren Cahill haben der Fall und die Ungewissheit dem Italiener „körperlich und geistig zermürbt, er bekam eine Mandelentzündung und verpasste die Olympischen Spiele“, sagte der 58-jährige Kanadier bei ESPN. „Wir sind nicht auf der Suche nach Kummer. Wir sind nur dankbar, dass es keine Sperre gibt.“
DPA