München – Es hatte ein bisschen was von Ansprache des Bundespräsidenten oder des Kanzlers. Deutschland-Fahne im Hintergrund und dazu die Videobotschaft zur Lage der (Fußball-)Nation. Der, so Manuel Neuer am Mittwoch auf seinem bevorzugten Kanal Instagram, wird er fortan nicht mehr dienen: Der Torwart erklärte seinen Rücktritt aus der deutschen Nationalmannschaft. Am Tag zuvor waren die Spekulationen noch in die andere Richtung gegangen: Dass er erst einmal weitermacht, die WM 2026 im Blick hat, aber die noch anstehenden Länderspiele in diesem Kalenderjahr weglässt. Nun hat der 38-Jährige für Klarheit gesorgt. „Irgendwann musste dieser Tag ja kommen: Mit dem heutigen Tag endet meine Karriere in der deutschen Nationalmannschaft“, sagte er. 15 Jahre und 124 Länderspiele (mit verletzungsbedingter Unterbrechung 2017/18 und noch einmal nach der WM in Katar dauerte seine Regentschaft.
Sein erstes Länderspiel hatte Neuer am 2. Juni 2009 in Dubai gegen die Vereinigten Arabischen Emirate bestritten. 7:2 gewannen die Deutschen damals mit dem jungen Torhüter, der auf Schalke den routinierten Frank Rost verdrängt hatte. Vor Neuer agierten in der beispiellosen Hitzeschlacht am Persischen Golf: Arne Friedrich, Andreas Hinkel, Philipp Lahm. Heiko Westermann, Thomas Hitzlsperger, Bastian Schweinsteiger, Piotr Trochowski, Christian Gentner, Mario Gomez, Lukas Podolski. Eingewechselt wurden Robert Huth, Marcel Schäfer, Tobias Weis, Christian Träsch und Cacau. Von ihnen ist neben Neuer nur noch Podolski aktiv, andere sind vergessen oder Funktionäre und TV-Experten geworden.
Neuer galt schon damals als Prototyp eines neuen Torhüters: Zu den klassischen Qualitätskriterien (Reflexe, Sprungkraft, Strafraumbeherrschung) kamen sein Fußball-IQ, der Mut, bis zur Mittellinie vorzurücken; dabei half ihm, dass er einen feinen Fuß hat(te) wie ein Feldspieler. Vor der EM 2008, als Jens Lehmann noch Deutschlands Nummer eins war, sah der damalige DFB-Sportdirektor Matthias Sammer Neuer als logischen Nachfolger – einen Tick vor allen anderen. Das waren Robert Enke und Rene Adler. Enke nahm sich im November 2009 das Leben, Adler war absehbar der Keeper für die WM 2010 – sagte aber wegen einer Rippenverletzung ab. In Südafrika hielt Bundestrainer Joachim Löw die Entscheidung lange offen – und setzte auf Neuer statt Jörg Butt oder Tim Wiese. Die Karriere nahm Fahrt auf: starke Turniere (herausragend: die WM 2014 mit dem Achtelfinale gegen Algerien), 2011 der Wechsel zum FC Bayern. Dass er bei den Münchner Fans unwillkommen war (“Koan Neuer“), lag nicht daran, dass seine sportliche Kapazität geringgeschätzt worden wäre, sondern an Neuers Vergangenheit als Schalke-Ultra. Eine fankulturelle Diskussion: Kann so einer die Farben wechseln?
Neuer ist längst bajuwarisiert und für viele der beste Torhüter der Fußballgeschichte. Nach 2018 war er als Nationalkeeper trotzdem umstritten, weil es mit Marc-Andre ter Stegen eine jüngere und gesündere Alternative gab. Die Diskussion zog sich in die EM 2024 hinein, Neuers Szenen wurden von den Kritikern seziert. Und das wäre so weiter gegangen. Nun hat Neuer noch selbstbestimmt das Kapitel DFB geschlossen. Ter Stegen, Oliver Baumann, Bernd Leno, Alexander Nübel – einer wird der Neue.
GÜNTER KLEIN