Angsthase? Ich doch nicht

von Redaktion

Norbert Nachtweih über seine Flucht, Frankfurt und Bayern

Republik-Flüchtling Nachtweih als Gegenstand einer Ausstellung.

Abwehrchef beim FC Bayern: Nachtweih im Duell mit Kalle Rummenigge (Inter Mailand). © Imago (2)

Angestellt bei der Eintracht: Nachtweih heute. © imago

Meister mit Bayern 1989: Norbert Nachtweih zwischen Erland Johnsen und Co-Trainer Egon Coordes. © imago sportFotodienst

München – Diese Fußballgeschichte ist einzigartig: Als Norbert Nachtweih sich am 16. November 1976 in Istanbul absetzte, gelang ihm die erste spektakuläre Flucht eines DDR-Fußballers in die BRD. Bei Eintracht Frankfurt und dem FC Bayern wurde der heute 67-Jährige zu einem der besten Bundesliga-Fußballern der 80er-Jahre. Dieses Wochenende ist für Nachtweih in doppelter Hinsicht besonders: Seine Biographie (“Zwischen zwei Welten“) erscheint – und seine beiden Herzensvereine treffen im Spitzenspiel am Sonntag (17.30 Uhr) aufeinander.

Herr Nachtweih, ihr Leben gibt es ab sofort als Buch. Kurz nach dem Tag der deutschen Einheit – ein Zufall?

Tatsächlich ein Zufall, aber ein schöner Zufall. Es gab ja schon eine Doku über mich – und das Buch ist die Fortsetzung. Das Thema Norbert Nachtweih ist aber damit auch zu Ende (lacht). Die letzten Kapitel meines Lebens bleiben privat.

Fangen wir also von vorne an – bei Ihren Anfängen in der DDR. Ist Ihr besonderes Fußballtalent da schon aufgefallen?

Nein. Ich war einer von vielen. Das lag aber vor allem daran, dass in der DDR immer aufs Team gesetzt wurde, alles ging über das Kollektiv. Die Einzelkönner wurden gar nicht richtig zugelassen, es ging um Physis, technische Ausbildung und klare Vorgaben. Das war im Westen ganz anders. Da hat die Mischung aus guten Einzelpersonen eine gute Mannschaft gemacht. Freigeister waren erlaubt. Zwei verschiedene Welten.

Das haben Sie später erfahren dürfen – nachdem Sie sich im Rahmen eines U21-Spiels in der Türkei gemeinsam mit Ihrem Teamkollegen Jürgen Pahl aus dem Hotel abgesetzt und zur Flucht in die BRD entschieden hatten.

Nicht aus politischen, sondern aus sportlichen Gründen. Wir haben ja auch in der DDR immer Bundesliga geschaut, das war unsere Traumliga. Wir hatten alles durchlebt, bis zur U21 alle Jugendnationalmannschaften durchlaufen. Aber wir haben uns immer gefragt: Was wäre, wenn wir die Möglichkeit hätten, in der Bundesliga zu spielen? Können wir uns da beweisen? Die Chance, diese Frage zu beantworten, gab es eben in dieser Nacht. Wobei das alles reiner Zufall war in der Türkei.

Erzählen Sie!

Ich hatte vorher ja immer eine große Klappe. Und diese Klappe hat mir den Weg geebnet. Im Nachhinein kann ich sagen: Ich habe alles richtig gemacht.

Wie lief die Flucht genau ab?

In dieser Nacht kam eins zum anderen. Im Hotel hatten wir mit einem Amerikaner Bekanntschaft gemacht und alles vorbereitet, in Istanbul auf dem Basar ließen wir uns dann von der Gruppe zurückfallen und zogen es durch. Es tat sich eine Möglichkeit auf – und ich wollte nicht der Angsthase sein. Hätte Jürgen einen Rückzieher gemacht, hätte ich auch einen gemacht. Aber so musste ich durchziehen. Ich als Familienmensch auf dem Weg in den Westen! Aber so war es eben, und wir hatten das Glück, dass uns nirgendwo große Steine in den Weg gelegt wurden.

Später, als Sie beim FC Bayern waren, hätten Sie beinahe ihre Geschwister dazu geholt.

Oh ja. Mein Bruder, meine Schwester und ein paar Freunde waren in Bratislava, um unser Spiel zu sehen. Und auf dem Rückweg haben wir sie im Bus mitgenommen. Ganz ehrlich: Hätten wir sie mit über die Grenze genommen, hätte es niemand bemerkt. Wir wurden gar nicht kontrolliert – ich habe gedacht, das gibt es doch gar nicht! Aber ich musste sie aus dem Bus schicken. Ich wollte keinen Ärger mit meiner Mama bekommen. Die hat mich ja schon genug vermisst.

Wie hat man den Kontakt gehalten?

Brieflich und telefonisch – obwohl ich wusste, dass die Stasi alles mithört und alles aufmacht. Ich habe hinterher mal die Unterlagen eingesehen: Sämtlicher Briefverkehr, der nach Polleben rein und raus ging, ist aufgemacht worden. Nicht nur unserer, sondern der von allen Einwohnern. Das ist doch Wahnsinn! Nur das Geld habe ich immer separat nach Hause geschickt. Da haben wir ein paar Wege gefunden. Im Schuhkoffer der Eintracht, später mal eingenäht in die Autositze.

Wie viel mehr Geld haben Sie in der BRD verdient?

Ich habe in der DDR auch in jungen Jahren relativ viel Geld verdient. Mit 17 habe ich so viel verdient wie mein Vater, der war Bergmann und hat schwer gearbeitet. In Frankfurt habe ich dann einen Vorvertrag bekommen mit 2000 Mark. Wir durften bei den Amateuren spielen und bei den Profis mittrainieren – und wir konnten Frankfurt erforschen (lacht). Bis ich dann spielen durfte, waren es rund 100 000 Mark im Jahr. Nicht die Zahlen von heute, aber für uns viel Geld.

Sie haben vier Jahre in Frankfurt gespielt. Was war der FC Bayern damals für Sie?

Mit Abstand der beste Verein. Frankfurt hatte eine super Mannschaft, wir hätten immer mal wieder Meister werden können, weil wir fast besser waren als Bayern. Aber im Organisatorischen, im Management, war der FC Bayern die Nummer eins. Im Vergleich zu Uli Hoeneß war alles andere Provinz.

Hoeneß holte sie dann nach München, wo Sie auch Trainer Pal Csernai bestens kannten.

Ich musste mich eingewöhnen, aber es hat geklappt. Eineinhalb Jahre hatten wir wenig Erfolg – aber ich bin ja sieben Jahre geblieben. Erst unter Csernai, dann Udo Lattek, später Jupp Heynckes. Am meisten hat mich Lattek geprägt. Er wusste, dass wir Potenzial haben – und konnte uns mit seiner Art bei Laune haben. Auch Heynckes war ein sehr guter Trainer, aber er kannte damals noch nicht die Lockerheit, die man bei Bayern München braucht. Die hat er erst später entdeckt.

Haben Sie sich irgendwann wie ein Westdeutscher gefühlt?

Nein! Ich habe nie vergessen, woher ich komme. Meine Kindheit war ein Traum – ich habe der DDR viel zu verdanken. Nun bin ich aber bald seit 50 Jahren hier, da übernimmt man schon das eine oder andere.

Wie ist Ihr Draht zu Frankfurt – dem Bayern-Gegner am Wochenende?

Ich bin seit 20 Jahren hier in der Fußballschule, also angestellt bei Eintracht Frankfurt. Und dazu engagiere ich mich beim „Walking Football“ für Rentner. Der Trend kommt aus England – und ich finde ihn toll. Fußball im Gehen, für die, die nicht mehr schnell rennen können.

Dann treffen ja Ihre beide Herzensvereine aufeinander.

In der Tat. Und wenn ich an die Bayern aus Frankfurter Sicht denke, denke ich auch immer daran, dass Bayern früher der einzige Verein, der in Frankfurt das Stadion gefüllt hat. Für uns hat es daher nach diesem Spiel immer die meiste Prämie gegeben. Und komischerweise habe ich mit der Eintracht fast alle Spiele daheim gegen Bayern gewonnen.

Passiert das am Sonntag, wird Frankfurt Tabellenführer?

Bayern ist wieder stark, aber es ist alles drin. Ich möchte schöne Spiele sehen – und ich bin natürlich für Frankfurt (lacht).


INTERVIEW: HANNA RAIF

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